zorneskalt: Thriller (German Edition)
September 2007
Offiziell denke ich nicht mehr an dich. Ich bin zu hundert Prozent auf die Zukunft fokussiert. Fragt mich jemand, wie es mir geht – und das tun die Leute regelmäßig –, benutze ich gern die Terminologie des Krieges ; sie verleiht eine dramatische Note, findest du nicht auch? Ich besiege meine Dämonen. Ich kämpfe gegen die finsteren Gedanken an, die mich zermartert haben. Wenn es sich anbietet, beuge ich mich manchmal nach vorn, fixiere sie mit stählernem Blick und sage so ehrfürchtig wie nur möglich: Ich bin eine Überlebenskünstlerin. Ich werde die Vergangenheit bewältigen. Dafür bekomme ich ein mitfühlendes Nicken, ein besorgtes Lächeln. Ich kann fast das Rauschen der Erleichterung hören, die sie durchweht. Ich kann die Checkliste von Sorgen sehen, die in ihrem Kopf abgehakt wird. Sie macht Fortschritte.
In Wirklichkeit tue ich nichts dergleichen. Ich kann dich nicht aus meiner Erinnerung tilgen, wie ich beim Frühlingsputz ein Regal ausräumen würde. Die Leute scheinen nicht zu verstehen, dass wir – unabhängig davon, was zwischen uns geschehen ist – einander stets in unserer DNA haben werden. Und ich will auch nicht fortschreiten, ganz im Gegenteil. Ich will zum Anfang zurückkehren. In die Zeit, in der du mich zu einem Lächeln brachtest, das bis zu den Augen reichte und in meinem Kopf kribbelte. Als wir über kleine Dinge lachten, die nur wir witzig fanden. Als wir uns wissend zublinzelten und Insiderwitze erzählten, als wären sie unsere eigene persönliche Währung. In die Zeit, in der wir ständig zusammen waren, weil wir nur so ein Ganzes ergaben.
Ich spüre deine Abwesenheit wie Schmerzen in der Magengrube, wie einen unstillbaren Hunger. Selbst wenn ich die Augen schließe, kann ich dir nicht entkommen. Ich sehe dich überall. Gestern spätnachmittags fiel die Sonne schräg durchs Fenster herein. Ich schloss die Augen, um ihre Wärme zu genießen. Ich malte mir aus, ich säße unter einem hohen, endlosen Himmel und starrte aufs Meer hinaus. Ich konzentrierte mich auf den Horizont, das Rot und Gelb und Grün der Fischerboote, die in der Dünung tanzten, das Blau des unter der Sonne glitzernden Meeres. Für einen ganz kurzen Augenblick war mein Verstand still und leer. Ich atmete tief. Ich war von meinen Gedanken befreit. Dann entdeckte ich dich: über die Wogen springend, das dunkle Haar vom Wasser gekringelt, lachend, als ein Brecher dich unter sich begrub. Ich lief ans Wasser hinunter, um dich zu sehen, geradewegs in die Brandung. Aber als du hochkamst, waren das Gesicht und die Haare nicht deine.
Das sind die grausamen Streiche, die mein Verstand mir spielt.
Ich finde keine Ruhe, bis ich dich erreicht habe. Oh, was würde ich dafür geben, dich ein letztes Mal zu sehen, damit du mir in die Augen blicken und ohne jeden Zweifel erkennen könntest, dass ich dich immer nur geliebt habe, dass ich alles nur aus dem innigen Wunsch getan habe, dich zu beschützen. Ich mache dir keinen Vorwurf, weil du anders denkst. Den mache ich den Leuten, die dich mit ihren Lügen vergiftet haben. Aber hör auf dein Herz. Vertraue deinem Instinkt. Denke an die schöne, kostbare gemeinsame Zeit. Wisse, dass etwas so Reines niemals schlecht sein kann.
Deshalb schreibe ich dir jetzt. Damit du verstehst. Ich weiß nicht, wie es dich erreichen wird, aber ich werde einen Weg finden. Niemand weiß von diesem Brief. Sein Inhalt passt nicht zu meinen » Darüber bin ich hinweg«-Parolen. Lass ihn also unser Geheimnis bleiben, wenn du ihn liest. Stell dir vor, ich wäre dir nahe, würde dir ins Ohr flüstern – unsere Geschichte, in meinen Worten erzählt. Und zum Schluss werden wir vielleicht ergründen, wie wir einander verloren haben und wie uns wiederfinden können.
1
Ich fange am besten an einem Montagmorgen im Januar an, weil das der logische Ausgangspunkt ist. Früher dac ht e ich: Das war der Tag, an dem sich alles änderte. Aber so einfach ist es natürlich nie. Die Saat der Veränderungen war vor Jahren gesät worden. In meiner Schachtel mit Erinnerungen an den 21. Januar 2007 wirst du folgende Dinge sehen: eine einzelne Sonnenblume in einem Garten; die Wogen, die gewaltig aufgerissenen Rachen, die unter dräuenden Wolken heranrollen. Und das Violett des Himmels, wie er elektrisch aussah, als wäre er an eine gewaltige Quelle negativer Energie angeschlossen.
Aber der Verstand spielt einem Streiche. Das tut auch das Gedächtnis. Was wir sehen, entspricht nicht unbedingt den
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