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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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den Rand: »Ausdruck diesmal zu nüchtern«. Wir lernen: Ernst Jünger war also schon nüchtern, als ihn alle anderen noch nicht einmal für voll nahmen.
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    Jeden Nachmittag steigt Ernst Ludwig Kirchner in die neugebaute U-Bahn und fährt bis zur Station Potsdamer Platz. Mit Kirchner waren auch die anderen Maler der »Brücke« gerade aus Dresden, ihrem Gründungsort, dieser wunderbar vergessenen sommerlichen Stadt des Barock, nach Berlin gezogen, Erich Heckel, Otto Mueller, Karl Schmidt-Rottluff. Sie waren eine eingeschworene Gemeinschaft gewesen, die die Farben und Frauen teilten und deren Bilder sich zum Verwechseln ähnlich sahen – aber Berlin, diese pochende Überforderung, die sich Hauptstadt nennt, macht sie zu Individuen und sägt an den Brücken, die sie verbinden. Alle anderen waren in Dresden bei sich gewesen, als sie die reinen Farben, die Natur und die menschliche Nacktheit feiern konnten. In Berlin drohen sie unterzugehen.
    Ernst Ludwig Kirchner aber kommt erst in Berlin zu sich – mit Anfang 30 . Seine Kunst ist städtisch, rauer, die Figuren überlängt und sein Zeichenstil so hektisch und aggressiv wie die Stadt selbst, seine Gemälde tragen den Ruß der Metropole wie einen Firnis auf der Stirn. Schon in den Waggons der U-Bahn saugen seine Augen die Menschen gierig auf, auf dem Schoß macht er seine ersten, schnellen Studien, zwei, drei Striche mit dem Bleistift, ein Mann, ein Hut, ein Regenschirm. Dann steigt er aus, zwängt sich durch die Menschenmassen, seine Skizzenblöcke und die Farben in der Hand. Es zieht ihn zum Aschinger, dort kann man den ganzen Tag sitzen bleiben, wenn man einmal eine Suppe bezahlt hat. Da also hockt Kirchner und schaut und zeichnet und schaut. Der Wintertag dämmert schon, der Lärm auf dem Platz ist ohrenbetäubend, es ist der verkehrsreichste Platz Europas, und auf ihm kreuzen sich vor aller Augen nicht nur die zentralen Verkehrsadern der Stadt, sondern auch die Linien der Tradition und der Moderne: Wer aus der U-Bahn hinaufkommt in den Schneematsch des Tages, der sieht oben noch Pferdefuhrwerke, die Fässer transportieren, direkt daneben die ersten noblen Automobile und die Droschken, die den Pferdeäpfeln auszuweichen versuchen. Mehrere Trambahnen ziehen gleichzeitig über den großen Platz, ein schleifendes, metallisches Ziehen erfüllt den weiten Raum, wenn sie sich in die Kurve legen. Und dazwischen: Menschen, Menschen, Menschen, alle rennen, als liefe ihnen die Zeit davon, über ihnen die Reklametafeln, die die Würstchen anpreisen, das Kölnisch Wasser und das Bier. Und unter den Arkaden die elegant gekleideten Kokotten, die Prostituierten, die Einzigen, die sich kaum bewegen an diesem Platz, wie Spinnen am Rande des Netzes. Sie tragen den schwarzen Witwenschleier vorm Gesicht, um der polizeilichen Aufsicht zu entgehen, vor allem aber sieht man ihre riesigen Hüte, skurrile Turmbauten mit Federn, unter den Laternen, deren grünes Gaslicht angezündet wird, wenn der frühe Winterabend hereinbricht.
    Es ist dieses fahle Grün, das in den Gesichtern der Kokotten auf dem Potsdamer Platz aufleuchtet und der malmende Lärm der Großstadt dahinter, den Ernst Ludwig Kirchner zu Kunst machen will. Zu Gemälden. Aber er weiß noch nicht wie. Und zeichnet deshalb vorerst weiter – »meine Zeichnungen duze ich«, sagt er, »meine Bilder sieze ich«. Er packt also seine Duzfreundschaften, Stapel voller Skizzen, die er in den letzten Stunden vom Tisch aus gemacht hat, in seine Mappe und hetzt nach Hause, in sein Atelier. In Wilmersdorf, in der Durlacher Straße 14 , zweite Etage, hat sich Kirchner eine Höhle geschaffen: Fast komplett behängt mit orientalischen Teppichen, vollgestellt mit afrikanischen und ozeanischen Figuren und Masken und japanischen Schirmen, daneben eigene Skulpturen, eigene Möbel, eigene Bilder. Es gibt Fotos von Kirchner aus dieser Zeit, da ist er entweder nackt oder aber trägt den schwarzen Anzug mit Binder, das hochgeschlossene Hemd blütenweiß, die Zigarette so lässig in der Hand, als sei er Oscar Wilde. Daneben immer Erna Schilling, seine Geliebte, die Nachfolgerin der selbstvergessenen, weichumrandeten Dresdener Dodo, eine Frau der Gegenwart mit freiem Geist unterm Bubikopf, physiognomisch von bestürzender Ähnlichkeit zu Kafkas Felice Bauer. Sie hat die Wohnung mit Stickereien nach Kirchners und eigenen Entwürfen dekoriert.
    Kirchner hatte Erna und ihre Schwester Gerda Schilling ein Jahr zuvor in einem Berliner Tanzlokal

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