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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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kennengelernt, wo auch Heckels Freundin Sidi auf der Bühne stand. Er lockt die hübschen Tänzerinnen mit den traurigen Augen noch am ersten Abend in sein Atelier, denn er wusste auf den ersten Blick: Deren architektonisch aufgebaute Körper »erziehen mein Schönheitsempfinden zur Gestaltung der körperlich schönen Frau unserer Zeit«. Erst ist Kirchner mit der 19 -jährigen Gerda zusammen, dann mit der 28 -jährigen Erna und dazwischen auch mit beiden. Kokotte, Muse, Modell, Schwester, Heilige, Hure, Geliebte – man darf das nicht so genau nehmen bei ihm. Durch Hunderte von Zeichnungen kennen wir jedes Detail der beiden Frauen, Gerda sinnlich provozierend, Erna mit kleinen, hochsitzenden Brüsten und einem ausladenden Gesäß, gesammelt, in melancholischer Ruhe. Es gibt ein herrliches Gemälde aus dieser Zeit, drei nackte Frauen links, werbend, rechts der Künstler in seinem Atelier, die Zigarette im Mund, die Frauen kennerschaftlich checkend, so gefällt er sich, »Urteil des Paris« schreibt er mit schwarzer Farbe hinten auf die Leinwand, 1913 , Ernst Ludwig Kirchner.
    Doch als der Paris Kirchner in dieser Nacht heimkehrt vom Potsdamer, sind die Lichter schon gelöscht, Paris kommt zu spät zu seinem Urteil, und Erna und Gerda sind eingeschlafen, vergraben in die riesigen Kissen im Wohnraum, der durch dieses Trio infernale zum berühmtesten Berliner Zimmer der Welt werden wird.
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    Die preußische Kronprinzessin Viktoria Luise und Ernst August von Hannover küssen sich im Januar zum ersten Mal.
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    In der Neujahrsausgabe der »Fackel« in Wien, der damals schon legendären Ein-Mann-Zeitschrift von Karl Kraus, erscheint ein Hilferuf: »Else Lasker-Schüler sucht 1000 Mk zu Gunsten der Erziehung ihres Sohnes.« Es unterzeichnen unter anderem Selma Lagerlöf, Karl Kraus, Arnold Schönberg. Die Schriftstellerin konnte nach ihrer Scheidung von Herwarth Walden nicht mehr die Kosten für die Odenwaldschule bezahlen, wo sie ihren Sohn Paul untergebracht hatte. Ein halbes Jahr hat Kraus mit sich gerungen, ob er den Aufruf abdrucken soll, inzwischen geht Paul längst in Dresden ins Internat, aber an Weihnachten hatte selbst ihn, Kraus, diesen Scharfrichter und rigiden Trenner zwischen Emotion und Rationalität, die Barmherzigkeit übermannt. Also setzt er die kleine Anzeige tatsächlich auf den letzten freien Platz der »Fackel«. Davor schreibt Kraus: »Ich sehe einen apokalyptischen Galopin die Vorbereitungen zur Weltbaisse treffen, den Sendboten des Verderbens, der die Vorhölle der Zeitlichkeit überheizt.«
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    Es ist eiskalt im winzigen Mansardenzimmer in der Humboldtstraße 13 in Berlin-Grunewald, Else Lasker-Schüler hat sich in mehrere Decken gewickelt, als die Türklingel sie mit ihrem schrillen Laut aus ihren Tagträumen reißt. Lasker-Schüler, wilde schwarze Augen, dunkle Mähne, liebessüchtig, lebensuntüchtig, schlingt sich ihren orientalischen Morgenmantel um und öffnet dem Briefträger, der ihr die Post entgegenhält. Die leuchtend rote »Fackel« aus Wien ihres fernen, strengen Freundes Karl Kraus und dann, direkt darunter, ein kleines blaues Wunder: Eine Postkarte von Franz Marc, dem Künstler des »Blauen Reiter«. Lasker-Schüler, mit ihren bunten Gewändern, den klappernden Ringen und Armreifen, ihrer wilden, märchenhaften Phantasie; sie war in jener Zeit die Verkörperung des inneren Orients einer in die Moderne hetzenden Gesellschaft, eine Traumgestalt, das Sehnsuchtsobjekt von so unterschiedlichen Männern wie Kraus, Wassily Kandinsky, Oskar Kokoschka, Rudolf Steiner und Alfred Kerr. Aber vom Vergöttertwerden kann man nicht leben. Else Lasker-Schüler geht es sehr schlecht, jetzt wo ihre Ehe mit Herwarth Walden, dem großen Galeristen und Verleger der »Sturm«-Zeitschrift, geschieden ist und er mit der schrecklichen Nell, seiner neuen Frau, in den Cafés sitzt, in die sie deshalb nicht mehr gehen kann. Aber genau in solch einem Künstlercafé traf sie im Dezember Franz und Maria Marc und sie werden zu ihrer Leibgarde, ihren Schutzengeln.
    Else Lasker-Schüler nimmt also die »Fackel« in die Hand, nichts ahnend von der rührenden Anzeige von Karl Kraus, und dann dreht sie die Postkarte um, die ihr Franz Marc geschickt hat. Sie erstarrt in stillem Jubel. Auf winzigem Raum hat ihr ferner Freund hier einen »Turm der blauen Pferde« gemalt, kraftstrotzende Tiere, die sich zum Himmel türmen, ganz aus der Zeit gefallen und doch mitten in ihr stehend. Sie spürt, dass sie ein einzigartiges

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