1913
sein Sorgenkind. Man hätte es nicht zu einem Drama machen sollen, um ein Drama zu verhindern, denkt er. »Ich habe einiges zu retten versucht, glaube aber nicht, dass man auf mich hört«, hatte er an Maximilian Harden geschrieben, bevor er in München aus der Mauerkircherstraße 13 aufbrach.
Er hasste es, sehenden Auges in ein Unglück zu gehen. Das war eines Thomas Mann nicht würdig. Aber was er im Dezember bei den Proben gesehen hatte, verhieß nichts Gutes. Gequält verfolgt er das Stück, das die Florentiner Hochrenaissance zum Leben erwecken soll, aber es kommt nicht in Fahrt, mehr Uff als Uffizien.
Irgendwann erlaubt sich Mann einen verstohlenen Blick über die linke Schulter. Dort, in der dritten Reihe, entdeckt er Alfred Kerr, dessen Bleistift über den Notizblock rast. Tief ist das Dunkel im Zuschauerraum, und doch meint er auf den Zügen Kerrs ein Lächeln zu erkennen. Es ist das Lächeln des Sadisten, der sich freut, dass ihm diese Inszenierung schönsten Stoff zum Quälen bietet. Und als er den unruhigen Blick Thomas Manns erhascht, durchläuft ihn noch ein wohligerer Schauer. Er genießt es, dass Thomas Mann und seine verunglückte »Fiorenza« nun in seiner Hand liegen. Denn er weiß: Er wird sehr fest zudrücken, und wenn er loslässt, wird sie leblos zu Boden taumeln.
Da fällt der Vorhang, und freundlicher Applaus kommt auf, so freundlich sogar, dass es dem Regisseur in seiner einzig wirklich geglückten Inszenierung gelingt, Thomas Mann zweimal auf die Bühne zu bitten. Er wird dies in unzähligen Briefen in den nächsten Wochen nie vergessen zu bemerken. Zweimal! Würdevoll versucht er sich also zu verbeugen, zweimal!, es wirkt eher ungelenk. In der dritten Reihe sitzt Alfred Kerr und klatscht nicht. Noch in der Nacht, als er in seiner Villa im Grunewald ankommt, lässt er sich einen Tee bringen und fängt an zu schreiben. Feierlich setzt er sich an seine Schreibmaschine und setzt als Erstes eine römische Eins aufs Papier. Kerr nummeriert seine Absätze einzeln, als seien es Bände einer Werkausgabe. Zunächst wetzt er den Säbel: »Der Verfasser ist ein feines, etwas dünnes Seelchen, dessen Wurzel ihre stille Wohnung im Sitzfleisch hat.« Und dann legt er los: Die Dame Fiorenza, die wohl als Symbol Florenz’ zu gelten habe, sei völlig blutleer, das ganze Stück in den Bibliotheken zusammengeschrieben, steif, trocken, kraftlos, kitschig, überflüssig. Das sind so seine Worte.
Als Kerr auch seinen zehnten Absatz nummeriert und abgeschlossen hat, zieht er zufrieden das letzte Papier aus der Maschine. Eine Vernichtung.
Am nächsten Morgen, als Thomas Mann in den Zug zurück nach München steigt, lässt Kerr den Text in die Redaktion der Zeitung »Der Tag« bringen. Am 5 . Januar erscheint er. Als Thomas Mann ihn liest, bricht er zusammen. »Unmännlich« sei er, so schreibt Kerr – das wird Mann am meisten treffen. Ob Kerr damit auf Thomas Manns verheimlichte Homosexualität anspielte oder ob es Mann nur als eine Anspielung verstand, ist einerlei. Kerr sah so genau wie sonst nur Kraus, wo er mit Worten tiefe Wunden hinterlassen konnte. Thomas Mann in jedem Fall fühlt sich tief getroffen, »bis ins Blut«, wie er schreibt. Das gesamte Frühjahr 1913 wird er sich von dieser Kritik nicht erholen, in keinem Brief fehlt der Hinweis, kein Tag ohne Wut auf diesen Kerl, auf diesen Kerr. An Hugo von Hofmannsthal schreibt Mann: »Ich hatte ungefähr gewusst, was kommen würde, aber es übertraf alle Erwartungen. Ein giftiges Gejökel, dem der Ahnungsloseste die persönliche Mordlust anmerken muss!«.
Das hat er nur geschrieben, weil er mich nicht bekommen hat, du lieber Thommy, sagt Katia zum Trost und streicht ihm mütterlich über den Scheitel, als sie aus der Kur zurückgekommen ist.
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Zwei Nationalmythen werden begründet: In New York erscheint die erste Ausgabe der »Vanity Fair«. In Essen eröffnet die Mutter von Karl und Theo Albrecht den Prototyp des ersten Aldi-Supermarkts.
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Und wie geht es Ernst Jünger? »Noch gut«. So jedenfalls lautet die Note, die der 17 -jährige Jünger in der Reformschule in Hameln für seinen Aufsatz über Goethes »Hermann und Dorothea« erhält. Er schrieb zwar: »Das Epos versetzt uns in die Zeit der Französischen Revolution, deren glutsstrahlender Flackerschein sogar die friedlichen Bewohner des stillen Rheintals aus dem zufriedenen Halbschlaf der Alltäglichkeit stört.« Doch dem Lehrer war das nicht gut genug. Er schrieb mit roter Tinte an
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