192 - Nah und doch so fern
dem Hitzschlag zu bewahren.
Seit Thgáans Auftauchen war aber noch etwas anderes vorbei. Etwas, das viel schwerer wog als Peinlichkeiten, Schnittwunden und das Dauernörgeln eines Zwölfjährigen.
Grao’sil’aana verspürte eine Erleichterung, als hätte man ihm Zentnerlasten von den Schultern genommen: Sein Alleinsein hatte ein Ende! Er brauchte sich nicht länger verlassen zu fühlen, war nicht länger der Exot in dieser schwer begreiflichen und von Emotionen geprägten Welt der Menschen. Die Daa’muren hatten ihn weder vergessen, noch hatten sie je aufgehört, nach dem Verbleib ihres hochrangigen Angehörigen zu forschen. Das änderte seinen Status dramatisch. Er war wieder der Sil! Er gehörte wieder dazu!
Tat er das wirklich?
»Mein Name ist Grao’sil’aana«, murmelte er unsicher. Wie zur Probe, mit gerunzelter Stirn. Diesen Satz hatte er früher ständig gesagt, weil Daa’tan die daa’murische Dreierkombination aus Name, Rang und Familienhintergrund so respektlos auf eine Silbe reduzierte.
Doch das war so lange her! Auch, dass Grao’sil’aana sich lieber mental artikulierte.
»Schön, dass du weißt, wer du bist!«, maulte Daa’tan prompt. »Kannst du dich jetzt mal um was Wichtiges kümmern?«
Grao’sil’aana seufzte. Er hätte gern Ordnung in seine Gedanken gebracht und die widersprüchlichen Gefühle ergründet, die mit ihnen einhergingen. Vor allem hätte er gern gewusst, ob das tatsächlich Gefühle waren! Als Daa’mure konnte seine Denkweise eigentlich nur eine ständige Kosten/Nutzen-Abwägung sein, und darin war kein Platz für Emotionen. Wenn er aber trotzdem welche hatte, was bedeutete das?
»Mann! Du hörst ja gar nicht zu! Ich rede und rede, und was passiert? Nichts!« Daa’tans Genörgel wurde weinerlich.
»Immer muss ich alles alleine machen! Nie hilft mir mal einer! Warum hast du mich überhaupt mitgenommen, wenn ich dir total egal bin? Mein Bein juckt, und ich komme nicht dran! Aber was interessiert dich das? Wahrscheinlich würdest du nicht mal merken, wenn ich sterbe!«
»O doch, das würde ich, ohne jeden Zweifel sogar! Ich erinnere mich noch zu genau an die Momente wohltuender Stille in meinem Leben, als dass ich nicht merken würde, wenn du…« Grao’sil’aana brach ab. Er hatte sich Daa’tan zugewandt, der wie er von Thgáans Tentakeln umschlungen wurde. Der Junge war verstummt, hing schlaff nach vorn.
Seine Haare klebten feucht am Kopf, an der Nasenspitze blitzte ein Schweißtropfen. Im Profil wirkte sein Gesicht so zart, fast zerbrechlich. Das hatte es heute Mittag noch nicht getan.
»Sieh mich an!«, forderte der Daa’mure.
Keine Reaktion.
(Daa’tan! Sieh her zu mir!), versuchte es Grao’sil’aana auf telepathischem Weg.
Diesmal gehorchte der Junge. Nur mit Mühe, wie es schien, drehte er sich dem Daa’muren zu. Grao’sil’aana erschrak, als er die fahle Blässe der Haut sah, die dunklen Ringe unter den Augen und den Fieberblick aus halb geschlossenen Lidern.
»Was ist los mit dir?«
»Ich… weiß… nicht…«, brachte Daa’tan hervor.
Grao’sil’aana beschlich eine Ahnung. Wie lange war es jetzt her? Ein Jahr? Er nickte. (Ungefähr, ja. Irgendwann im Frühling), dachte er. (Bei Sol’daa’muran! Wie konnte ich das vergessen?)
»Was… vergessen…«, lallte Daa’tan.
Grao’sil’aana berührte die Stirn des Jungen. Sie glühte, und das lag nicht an der Hitze des Tages!
(Gib mir deine Hand! Und sprich nur mental, wenn überhaupt, das schont deine Kräfte!), befahl der Daa’mure. Er nahm die schlanke Jungenhand, drehte sie behutsam um und prüfte Daa’tans Fingerkuppen. Tatsächlich! Da war es wieder, dieses Netz aus feinen grünen Adern! Es hatte schon beim letzten Mal signalisiert, dass die Zeit gekommen war. (siehe MADDRAX 166 »Sohn dreier Welten«)
»Thgáan!«, rief Grao’sil’aana. »Steig auf! Such nach Bäumen – großen Bäumen mit viel Laub! Der Junge bekommt einen Wachstumsschub! Er muss unter die Erde, und zwar schnell!«
(Unter die Erde? Warum? Bist du böse auf mich, Grao?) (Aber nein, es ist alles in –) »Ordnung!«, schrie der Daa’mure erschrocken, als Thgáan ohne Vorwarnung über den linken Flügel kippte und schräg nach oben zog. Kraftvoll bewegte er die Schwingen. Dabei lockerten sich seine Tentakel, und Daa’tan rutschte ein Stück heraus. Grao’sil’aana packte hastig zu, hielt ihn fest. Doch er merkte, wie ihm Daa’tans fieberfeuchte Hand immer mehr entglitt. Der Daa’mure wollte nicht nach
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