194 - Die Hölle der Erkenntnis
Blickfeld verengte.
Grao’sil’aana war noch nicht dahinter gekommen, was genau dieses Besondere war.
Die Wolkendecke riss auf, und je höher das Zentralgestirn über den Horizont stieg, desto lichter wurde sie, bis schließlich nur noch einzelne Wölkchen unter dem Rochen dahin schwebten. Darunter wurde das Meer sichtbar.
Daa’tan – wie würde es ihm wohl gehen? Der Daa’mure hatte ihm eingeschärft, sich bis zu seiner Rückkehr nicht aus seinem Versteck zu wagen. Grao’sil’aana konnte nur hoffen, dass er gehorchte. Versprochen hatte Daa’tan es zwar, aber bei dem jungen Primärrassenvertreter wusste man nie.
Überhaupt würde es immer schwieriger werden mit dem Jungen. Gehorsam war noch nie seine Stärke gewesen, und jetzt, wo er wieder einen seiner Entwicklungssprünge gemacht hatte und an der Schwelle zum Erwachsenenstadium eines geschlechtsreifen Primärrassenvertreters stand, würde sein Eigensinn sich womöglich noch energischer durchsetzen.
Grao’sil’aana war auf alles gefasst.
In Gedanken bei seinem Schützling, blickte Grao über die weite blaue Fläche des Ozeans. War es ein Fehler gewesen, Daa’tan allein zu lassen? Vielleicht. Doch was hätte er tun sollen? Der Sol musste von der feindlichen Macht unter dem roten Felsen erfahren. Von dem, den sie Finder nannten, oder Ahne, oder HERR.
Sein fotografisches Gedächtnis half Grao’sil’aana hier über der sich ständig verändernden Wasserwüste nicht weiter.
Nirgends ein Küstenstreifen oder eine Insel, nur Wasser.
Dennoch funktionierte seine Orientierung perfekt. Er wusste: Noch bevor das Zentralgestirn wieder hinter dem Horizont versank, würde der Rochen das Kraterseebecken erreichen.
Und niemand musste Thgáan den Weg erklären. Auf unerklärliche Weise fand er immer zum Ziel.
Etwas berührte Grao’sil’aanas Geist. Es fühlte sich schroff und dringend an. Signale aus einer fremden Aura, wie Geschrei klangen sie. Grao’sil’aana stutzte. Daagson…! Jemand rief den Namen seines Gefangenen. Daagson, töte dich…! Der Daa’mure fuhr herum. Augenblicklich sprang er auf: Sein Gefangener lag am Rand des Rochenkörpers, dort wo die linke Schwinge in den Rumpf überging!
Daagson, töte dich…! Die Bewegung der Schwinge kugelte den nur noch halb in Decken gehüllten Körper hin und her, bewegte ihn Stück für Stück näher zum Abgrund. Daagson bebte. Grao’sil’aana sah nur das Weiß seiner Augen im Sonnenlicht schimmern. Mit den Zähnen hatte er seine Handfesseln schon fast durchgebissen. Daagson, töte dich…!
Grao’sil’aana stieß sich ab und hechtete auf ihn. Er packte den Primärrassenvertreter, riss ihn zurück auf den Rücken Thgáans und hielt ihn dort fest. Der fremde Körper zitterte. War es denn möglich, dass er trotz der Fesseln und der tiefen Ohnmacht bis auf die Schwinge gerobbt war, um sich in die Tiefe zu stürzen?
Grao’sil’aana erneuerte die Fesseln seines Gefangenen.
Danach kniete er auf Daagsons Brust und fixierte seine nach oben verdrehten Augen. Dampf stieg von seinem Körper auf, Schaum stand auf seinen bleichen Lippen. Der Primärrassenvertreter warf den Schädel mit dem feuchten Haar hin und her, und noch immer spürte Grao’sil’aana den mentalen Befehl zum Selbstmord. Daagson, töte dich…! Was für ein mächtiger Feind! Selbst seinem tief bewusstlosen Sklaven vermochte er Befehle zu erteilen! Selbst einen betäubten Körper konnte er dazu bringen, sich in die Tiefe zu stürzen! Ungeheuerlich!
Grao’sil’aana packte die Ohren des Mannes und hielt seinen dampfenden Schädel fest. Wie er zitterte und bebte, wie heiß seine Haut war. Nein, nicht von einer Verletzung stammte das Fieber, sondern von einem unnatürlich erhöhten Stoffwechsel.
Trotz der Bewusstlosigkeit arbeitete dieser Organismus auf Hochtouren.
Grao’sil’aana drang mit seinen Geistfühlern in das zentrale Nervensystem seines Gefangenen ein. Es war schwer, denn statt auf die ontologisch-mentale Substanz des Primärrassenvertreters traf er zunächst auf die Signatur dreier mentaler Kräfte: die Auren, die ihn riefen. Und erst als er sie überwunden hatte, stieß er hinter ihnen auf die mentale Kraft jener unheimlichen Macht – auf den Finder.
Es kostete Grao’sil’aana alle Kraft, den Widerstand zu überwinden. Zuerst seinen eigenen – etwas in ihm sträubte sich gegen die mentale Signatur des ungeheuerlichen Feindes – und schließlich den der fremden Macht. Wie ein Orkan, der seinem Geist mit atemberaubender
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