1966 - Der Schattenbruder
Gharrer - überhaupt noch nicht bewusst denken konnte. Aber die Kenntnis von der Ausdünstung der inneren Verwesung war für ihn schon in dem Augenblick, als er aus dem Ei geschlüpft war, so uralt wie die Geschichte der Gharrer gewesen.
Auf einer Ebene hatte ihn in diesem Moment getrieben, was alle Gharrer und alle Logiker vor ihnen - seit Jahrhunderttausenden trieb: die instinktive Sehnsucht nach den blassgrauen, daumengroßen Schuppen der Mutter, die um die Zitzen herum so herrlich weich und warm waren. Nach der Geborgenheit, die man verspürte, wenn man einen großen Teil seiner spärlichen. Kräfte dazu verwandt hatte die harte Eierschale mit Tritten, Schlägen und Stößen zu zersplittern, ein Loch in sie zu treiben, einen Riss. Und dann von der Mutter angelegt wurde und instinktiv wusste, dass die Zitzen sich in greifbarer Nähe befanden.
Auch dies war noch ein Selektionsprozess gewesen: Bis zu neun Frischgeschlüpfte kämpften um den kürzesten Weg zur nächsten Zitze, und wer ihn nicht fand, aussortiert wurde, musste seine Kräfte damit verschwenden, von einer belegten Zitze zur nächsten zu kriechen, bis er schließlich eine fand, die ihn nähren konnte. Schon diese ersten Minuten im Leben eines Gharrers hatten eine entscheidende Bedeutung für seine zukünftige Entwicklung.
Mhogena sah sich nicht vor dieses Problem gestellt. Denn das Gelege seiner Eltern wies keine neun, sondern lediglich vier Eier auf. Er fand sofort eine freie Zitze. Er hätte auch sofort eine gefunden, wäre eins dieser Eier kein Totling gewesen.
Doch obwohl er in diesem Augenblick noch nicht denken konnte, nichts außer der Begierde verspürte, die dünnen, hornartigen Lippen um eine widerstandsfähige und doch so herrlich weiche Zitze zu schließen, die warmen Schuppen seiner Mutter an seiner Haut zu spüren und ihnen Trost und Behaglichkeit zu entnehmen, wusste er, dass eines seiner Gelegegeschwister ein Totling war. Unmöglich war diese Kenntnis zum zweiten, weil er allein über sie verfügte. Das Ei war äußerlich unbeschädigt. Niemand konnte riechen, dass es einen Totling barg. Hätten seine Eltern es bemerkt, hätten sie es aus dem Gelege entfernt. Aber sie ahnten es nicht, bis Mhogena und seine bei den Schwestern schon längst geschlüpft waren und das vierte Ei noch Tage später überfällig war.
Aber womöglich täuschte Mhogena sich in dieser Hinsicht. Vielleicht ahnten sie es doch, wollten es sich nur nicht eingestehen, weil dieses Gelege nur aus vier Eiern bestand, sein Umfang nicht einmal die zweite Hälfte der heiligen Zahl erreichte. Vielleicht hätten sie es sich auch bei neun Eiern nicht eingestanden. Oder auch nicht bei neunhundert. Jedenfalls hatte Mhogena den Gestank des Totlings gerochen und erinnerte sich daran, immer wieder, sein Leben lang, nicht ständig, aber stets in wichtigen Situationen dieser oder jener Art. Der Geruch wurde sein lebenslanger Begleiter.
Genau, wie auch der Totling ihn nie verließ. Er hatte keinen Namen, nie einen bekommen, aber bei sich nannte Mhogena ihn Schattenbruder. Und jedesmal, wenn Mhogena diese Ausdünstung wahrnahm, wusste er, dass sein Bruder, der nie ins Leben getreten war, sich bei ihm meldete und ihm irgendetwas mitteilen wollte. Nur war ihm nicht immer sofort klar, was sein Bruder, der Totling, ihm sagen wollte, wenn er aus den Tiefen des Reichs der undurchdringlichen Schatten jenseits der diesseitigen Existenz zu ihm sprach, zu denen kaum ein Gharrer je Zutritt fand.
Zum erstenmal nach dem Schlüpfen nahm Mhogena den Geruch seines Schattenbruders mit acht Jahren wahr. Aber er sollte erst viel später eine Erklärung für die Vorfälle dieses Tages finden, die mit dem gleichaltrigen Pratmoka zusammenhingen. Zu dieser Zeit befand Mhogena sich in der Ausbildung, war er auch nach Maßstäben der Gharrer noch ein Kind. Er besuchte eine der zahlreichen Schulen in Peltuwpar, einer Ansiedlung seiner Heimatwelt, die sich an die Ausläufer eines Gebirges schmiegte, dessen höchste Gipfel weit über zehn Kilometer in die Atmosphäre vorstießen. Die Erhebungen schützten die Ortschaft ausreichend vor den Naturgewalten der riesigen Wasserstoffwelt, die er seine Heimat nannte. Der Zwischenfall ereignete sich ausgerechnet in einer kurzen Pause vor einer jener Unterrichtseinheiten, in denen die jungen Gharrer lernten, ihre ganz besondere Fähigkeit zu entwickeln, durch die sie sich von allen anderen Völkern Chearths unterschieden. Sie mochte bei den Wasserstoffatmern
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