Kasey Michaels
1. Kapitel
n strahlendem Sonnenschein lenkte der prächtig
livierte Kutscher den von vier feurigen Rappen gezogenen Reisewagen vom
Bordstein fort. Die Kutsche mit dem dezent vergoldeten Basingstoke-Wappen auf
den Schlägen entfernte sich schlingernd, wobei sich zwei ebenfalls livrierte
Lakaien an die rückwärtigen Haltegriffe klammerten.
Das Klirren
des Zaumzeugs und das helle Klappern der Hufe schienen ein Lied zu intonieren: Lebwohl,
lebt alle wohl, eine junge Liebe zieht in die weite Welt.
Der
Augenblick war wie ein Bild, ein hübsches bewegtes Bild, das den Titel „Hinaus
ins Abenteuer“ tragen könnte, besonders, wenn der Künstler imstande wäre,
die freudig erregte, lachende junge Dame lebensecht zu porträtieren. Lady
Nicole Daughtry hatte ihren Hut abgenommen, und die Sonne strahlte ihr voll ins
Gesicht, als ob die Götter selbst einen besseren Blick auf ihre junge frische
Schönheit werfen wollten. Gefährlich weit aus dem Fenster lehnend, winkte sie
immer noch und schickte Kusshände zurück zu dem Stadthaus am Grosvenor Square,
bis der Wagen um die nächste Ecke bog und aus dem Blickfeld verschwand.
Das war es
also. Der Platz lag wieder still da; selbst die Sonne, die eben trotz des
kühlen, regnerischen Sommers zu erscheinen geruht hatte, zog sich hinter eine
Wolke zurück, und die Welt hüllte sich wieder in tristes Grau.
Lady Lydia
Daughtry schloss das Fenster im zweiten Stockwerk von Ashurst House und setzte
sich auf die mit Samt bezogene Polsterbank am Fußende ihres Bettes. Den Rücken
gerade aufgerichtet, die Hände fest ineinander verschlungen – damit ihr Zittern
sie nicht verriete – saß sie da, ebenfalls ein hübsches Bild, doch eines ohne
das Feuer und Licht, das ihre Schwester vorhin ausgezeichnet
hatte. Eine Weile verharrt sie statuengleich, dann stieß sie einen tiefen
Seufzer aus, ehe sie ihr gemessenes Atmen wieder aufnahm.
Für den
zufälligen Beobachter war sie wie stets ein ruhender Pol; niemand, der sie sah,
würde denken, dass ihr Herz wild hämmerte oder dass sie kurz vor dem stand, was
ihre frühere Gouvernante einen „Koller“ genannt hätte.
Nicht dass
Lydia sich je einem solchen Koller ergeben hätte. Wenn man etwas voller Wut an
die Wand warf und es zerbrach, musste man doch nur die Scherben beseitigen,
wozu also der Umstand?
Ihre
Zwillingsschwester, die gerade abgereiste Nicole, hatte seit je jede Menge
solcher Anfälle zelebriert, und besonders erinnerungswürdig war der, als ihre
Mutter damals den dritten Gatten ehelichte und danach ihre drei Kinder
unverzüglich nach Ashurst Hall abschob. Wenn nämlich in Helen Daughtrys Leben
ein neuer Mann auftauchte, pflegten für sie ihre Kinder an Wichtigkeit zu
verlieren. Wenn Nicole jedoch nicht als wichtig erachtet wurde, wollte sie
zumindest bemerkt werden, und sei es nur, indem sie das Haupt des neuen
Stiefvaters mit einer schweren silbernen Schale Bekanntschaft schließen ließ.
Warum hatte
der Mann sich auch nicht rasch genug geduckt, als sie warf?
Bei der
Erinnerung musste Lydia lächeln, weil Nicole Dinge tat – wunderbar dramatische
Dinge –, von denen sie, die bedächtige, stets zurückhaltende Schwester
höchstens träumte.
Und nun war
Nicole fort. Ihre Schwester, ihr Zwilling, ihre Herzensfreundin, war abgereist,
um die Mutter ihres Verlobten, des Marquis of Basingstoke, kennenzulernen.
Weder für Nicole noch für Lydia würde das Leben je wieder dasselbe sein. Keinen
einzigen Tag ihrer achtzehn Lebensjahre war Lydia je ohne Nicole gewesen, ohne
die lachende, abenteuerlustige Nicole, die überall Aufregendes fand, und wenn
sie es nicht fand, selbst für Aufregung sorgte.
In
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