1980 Die Ibiza-Spur (SM)
der Ferse auf einem Sockel Halt gefunden. So hätte er jetzt eigentlich, bei etwas mehr Aufmerksamkeit, das veränderte Terrain bemerken müssen. Aber er hatte vor dem Verlassen des Büros eine heftige Auseinandersetzung mit seinem Vorgesetzten gehabt. Der Chef hatte ihn mit einer ganzen Serie von Grobheiten bedacht, und nun war er mit den Antworten beschäftigt, die er ihm erteilt hätte, wenn sie ihm nur rechtzeitig eingefallen wären. So registrierte er nicht die ungewohnte Beschaffenheit des Bodens unter seinem Absatz, empfand zwar diffus einen fremdartigen Effekt gegenüber dem, was seine Ferse sonst ertastete, machte sich aber keine Gedanken darüber. Die sechs verließen im Parterre die Kabine, wechselten in der Halle noch ein paar Worte miteinander und fädelten sich durch die Drehtür hinaus auf die Straße.
Um 17.53 Uhr verwandelte sich, wie seit einigen Wochen schon mehrmals um dieselbe Zeit, der nüchterne, von Gleitschienen und Stahlseilen gelenkte Transportbehälter in ein schwüles, schwebendes Séparé. Da kniete in seinem teuren Kammgarnanzug der schon etwas ältere kaufmännische Direktor der Speditionsfirma GLOBE-TRANSFER, die ihre Verwaltungsräume im siebten Stock des Hauses hatte, vor seiner um dreißig Jahre jüngeren Sekretärin. Er hatte ihren Rock bis zu den Hüften hinaufgeschoben, und was sein heißes, gefräßiges Gesicht sonst noch hätte behindern können, war nicht vorhanden; es steckte in der Handtasche der Dame. Ein paar kurze, hektische, akribisch auskalkulierte Sekunden lang schwitzte sich der arme, glückliche Mann hinunter ins Parterre, natürlich weit davon entfernt, den neuen Sockel auf dem Fahrstuhlboden zu bemerken. Und auch seine Partnerin hatte, wie gewohnt, ihre Augen woanders. Sie starrte auf die Knöpfe der Schalttafel und spielte ihr eigenes Spiel, prüfte wieder einmal, welche Telefonnummern ihres Bekanntenkreises sich aus den acht vorhandenen Ziffern zusammenstellen ließen. Es waren nur sehr wenige, weil die Null und die Neun fehlten und keine Ziffer mehr als einmal vorkam.
Unten, in der Halle, grüßte der Mann den Pförtner ganz besonders jovial, während die hochbeinige Blonde die Tür zum sanitären Bereich ansteuerte.
Zwischen 17.57 Uhr und 18.01 Uhr beförderte der Elevator eine Gruppe von elf Kindern aus dem fünften Stockwerk nach unten. Die lange Dauer dieses Transports war darauf zurückzuführen, daß die Jungen und Mädchen, die von der Schule her miteinander befreundet oder bekannt waren und nach einer Untersuchung beim Kieferorthopäden aufeinander gewartet hatten, nicht auf dem direkten Weg nach unten fuhren, sondern in ihrer Ausgelassenheit ein turbulentes Knopfdrücken auf der Schalttafel veranstalteten, so daß sie erst einige Male zwischen den Stockwerken hin und her pendelten, ehe sie unten ankamen. Daß sie die Vorhalle dann aber schnell und diszipliniert verließen, lag am Pförtner, der den lärmenden Haufen, als er sich schließlich ins Vestibül ergoß, zur Räson brachte. Wenige Sekunden nach 18.01 Uhr waren die Kinder auf der Straße. Sie rannten und wußten nicht, wie gut es war, daß sie rannten.
Um 18.02 Uhr wurde der Lift in den achten Stock gerufen. Dort hatte um genau 18.00 Uhr ein Dutzend Menschen Feierabend gemacht. Wie gewöhnlich standen die fünf Damen und sieben Herren vor dem mit Knöpfen und Leuchtzeichen ausgestatteten, noch verschlossenen Fahrstuhl und warteten. Das Summen ertönte, und dann erklang das gedämpfte Glockensignal, die Türen öffneten sich, die Damen gingen voran, die Herren folgten.
Die beiden etwa sechzigjährigen Schneidermeister Jacob Grünthal und Elias Winterstein, die in zwei großen Räumen der achten Etage ihre Werkstatt hatten und dort für ein in der Nachbarschaft gelegenes Konfektionshaus die täglich anfallenden Änderungen machten, hatten ein wenig abseits der kleinen, vor dem Fahrstuhl wartenden Menschentraube gestanden. Das taten sie, wenn der Feierabend da war, fast immer, ohne befürchten zu müssen, daß die Kabine überfüllt sein könnte und sie also nicht mitkämen, denn die zwölf Menschen, die in der achten Etage werktags pünktlich kurz nach achtzehn Uhr im Korridor standen, waren immer dieselben. Vielleicht, daß dann und wann einer fehlte, aber mehr als zwölf waren es nie, und noch nie hatte einer von ihnen wegen Überfüllung der Kabine zurücktreten und auf den nächsten Transport warten müssen.
Als Jacob Grünthal und Elias Winterstein diesmal den Lift betreten wollten,
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