Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1980 Die Ibiza-Spur (SM)

1980 Die Ibiza-Spur (SM)

Titel: 1980 Die Ibiza-Spur (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
Vom Netzwerk:
I.
    Das Ticken unterschied sich nicht von dem der normalen Uhren, wie sie auf den Nachttischen stehen oder an den Wohnzimmerwänden hängen, in den Büros zu finden sind, oder wie Millionen Bürger sie am Handgelenk tragen, aber es hatte einen bösen, einen verhängnisvollen Sinn.
    Niemand hörte es. Ein Stahlmantel dämpfte die ohnehin verhaltenen, in kurzen Intervallen ausgesandten Töne, deren Verstummen auf 18.03 Uhr programmiert war, und außerdem gab es dort, wo die kleinen, wispernden Impulse vielleicht aufgefallen wären, zuviel anderes Geräusch, als daß jemand sie hätte heraushören und definieren können. Der Stahlmantel, der das Zählwerk umschloß, war ein acht Zentimeter hoher und ebenso breiter Rahmen, der hufeisenförmig die Trittfläche einer Fahrstuhlkabine begrenzte. Er war in der Mittagsstunde, als die meisten der in dem Gebäude beschäftigten Männer und Frauen zu Tisch gegangen waren, angebracht worden. Doch auch den Stahl sah man nicht, er war überklebt mit dem gleichen dicken, olivfarbenen Velour, mit dem auch der Kabinenboden bedeckt war. Die Installateure hatten mit der Unaufmerksamkeit oder auch der Gleichgültigkeit der Fahrstuhlbenutzer gerechnet und sich nicht getäuscht. Viele fuhren in dem Lift schon jahrelang auf und ab, und sie bemerkten die Veränderung dennoch nicht. Andere sahen sie zwar, schwiegen aber oder kommentierten sie nur oberflächlich. Niemand kam auf die Idee nachzufragen, zu welchem Zweck der Kabinenboden plötzlich den sockelartigen Saum bekommen und wer diese Arbeit in Auftrag gegeben hatte. So tickte also, von den Benutzern unbemerkt, am Fuße der rückwärtigen Kabinenwand die Uhr ihrem fatalen Kollaps entgegen, ging dabei ungezählte Male mit dem Vehikel auf und ab, wechselte mit ihm die Etagen, verharrte mal weiter oben, mal weiter unten, und während ihres auf fünfeinhalb Stunden befristeten Einsatzes war ihr, jeweils nur für Bruchteile von Minuten, die Nachbarschaft von wohl im ganzen vierhundert Füßen beschieden.
    Um 17.31 Uhr fuhr eine Frau nach oben. Sie hatte einen Cockerspaniel bei sich. Beide, Frau und Hund, waren mit der Kabine vertraut. Die Frau bemerkte zwar die am Boden vorgenommene Veränderung, dachte aber nur: Wie hübsch! Eine Neugier jedoch, die sie vielleicht zur Frage nach dem Sinn der ungewöhnlichen Neuerung oder auch nur zu deren beiläufiger Erwähnung hatte veranlassen können, kam in ihr nicht auf.
    Der Hund schnupperte aufgeregt an der neuen Kante. Vielleicht vernahm er sogar, ausgerüstet mit einem viel sensibleren Gehör als seine Herrin und obendrein dem verborgenen Uhrwerk natürlich ungleich näher, das geheimnisvolle Ticken. Vermutlich aber konnte auch er ein so dickverpacktes Wispern nicht von den Fahrgeräuschen der Kabine trennen, und es war also nur der frische Klebstoff, der ihn in seinen Bann zog. Er lief mehrmals am Sockel entlang, schnupperte, schnaubte, schabte schließlich ziemlich aggressiv mit seinen Krallen über den kleinen Sims, was seine Herrin, die an der Haltbarkeit der Noppen zweifeln mochte, zu einem ärgerlichen »Nein, nein!« veranlaßte.
    Im sechsten Stockwerk stieg die Frau aus, zog den Hund, der immer noch nicht von dem Sockel lassen wollte, unsanft an der Leine hinter sich her und ging, wiederum über olivgrünen Velour, auf das etwa dreißig Schritte entfernt gelegene Büro ihres Mannes zu. Wie sie es vereinbart hatten, holte sie ihn heute etwas früher ab als sonst. Das war nichts Ungewöhnliches. Die sechste Etage beherbergte die Büroräume der Immobilienfirma SOLMARIS, in der man längst zu gleitender Arbeitszeit übergegangen war. Ihr Mann kam ihr schon auf dem Korridor entgegen, und so konnten sie, ohne warten zu müssen, den Fahrstuhl stoppen, als er vom achten Stockwerk zurückkam. Um 17.35 Uhr hatten der Mann, die Frau und der Hund das Gebäude bereits verlassen und waren in den Passantenstrom der Straße eingetaucht.
    Um 17.39 Uhr traten in der siebten Etage zwei ältere Herren auf den Fahrstuhl zu. Sie überboten einander in dem Bemühen, sich gegenseitig den Vortritt zu lassen. Aber die Automatik setzte die Türflügel wieder in Bewegung, und daraufhin traten beide zugleich ein, ganz schnell, der eine rechts, der andere links, was das Zugleiten der Türflügel so lange verhinderte, bis beide Herren ihren Platz in der geräumigen Kabine eingenommen hatten. Drinnen gab es Gelächter und dann einen kleinen Dialog über Umgangsformen, die sich bisweilen, wie sie es gerade erlebt hatten,

Weitere Kostenlose Bücher