1980 Die Ibiza-Spur (SM)
war die Situation plötzlich anders als sonst. Mit den zehn Personen, die vor ihnen die Fahrstuhltür passiert hatten, war die Kabine besetzt. Die beiden waren verblüfft, argwöhnten sogar einen Atemzug lang wiedererwachte Feindseligkeit gegenüber ihrem Volk, aber die anderen, das erkannten sie bald, waren nicht minder erstaunt. Was Abend für Abend ohne jede Komplikation, ja, fast schon wie ein Ritual ablief, sollte plötzlich, ohne daß jemand hinzugekommen war, nicht mehr funktionieren? Man sah sich an, verdutzt, irritiert, schob und drückte, versuchte Platz zu machen für die beiden, die doch dazugehörten. Einer hielt immer noch von innen die Tür auf, aber es war nicht zu ändern. Der Platz für die beiden letzten war an diesem Abend nicht mehr da.
Schließlich sagte eine Frau, sie stand an der Wand und stieß mit dem Fuß gegen den Sockel: »Das muß an dieser neuen Einfassung liegen!« Und ihre Kollegin, die neben ihr stand, antwortete: »Ja, sie ist fast so breit wie eine Hand, und das nimmt eine Menge Platz weg.«
Die beiden Schneider waren nicht so geartet, daß sie sich um einiger Minuten willen rücksichtslos in eine beengt stehende Gruppe drängen würden, eher gehörten sie zu denen, die den allzu nahen Kontakt meiden, und so traten sie lächelnd von der Kabine zurück. Die Tür schloß sich. Der Fahrstuhl glitt abwärts.
Die Zurückgebliebenen gingen den Flur entlang, und der Kleinere, Jacob Grünthal, dessen lebhafte Gestik etwas von der Quirligkeit eines Wiesels hatte, sagte: »Eine Handbreit und das durchgehend an allen drei Seiten, das macht schon was aus; ist beinah ein halber Quadratmeter. Der Platz für uns beide.« Sie hatten das Ende des langen Korridors erreicht, machten kehrt, und Elias Winterstein erwiderte:
»Nun, was macht’s! Werden wir eben in Zukunft ein paar Minuten später hinunterfahren.«
Die Bombe zündete pünktlich um 18.03 Uhr, und zwar zwischen dem ersten Obergeschoß und dem Parterre. Die Explosion war von einer solchen Wucht, daß die beiden Schneider, obwohl relativ weit von der Unglücksstätte entfernt, gegen die Wand geschleudert wurden. Sie kamen mit Prellungen und Hautabschürfungen davon. Aber die Kabine!
Und die unteren Stockwerke!
Und die Halle!
Die Sprengladung war, was die Kalkulation der Wirkung betraf, teuflisch placiert. Wie ein Kern in der Frucht hatte sie in der Tiefe des Hauses gesteckt, nicht dazu ausersehen, eine Fassade zu lädieren, sondern wie eine Eruption aus dem Innern heraus die Zerstörung zu betreiben. Das TNT im Stahlrahmen, der Rahmen in der Kabine, die Kabine im Fahrstuhlschacht, der Schacht im Zentrum des Gebäudes, das war wie die Puppe in der Puppe in der Puppe, und jede hatte ihren eigenen starren Mantel aus Metall oder Beton. Das produzierte einen Druck, wie er vernichtender nicht hätte ausfallen können.
Von den zehn Insassen des Lifts war keiner mehr am Leben. Die Detonation hatte die Körper zerknüllt und zerrissen wie Papier. Im dritten Stock starben zwei Putzfrauen, die gerade angefangen hatten, ihre Staubsauger durch den Flur zu ziehen. Sie starben schnell, schon beim Anprall gegen die Decke.
In den Büroräumen des ersten, zweiten und dritten Stockwerks hatten sich noch einige Angestellte aufgehalten, deren Arbeitszeit über 18.00 Uhr hinausging oder die es mit dem Beginn des Feierabends nicht so genau nahmen. Von ihnen wurden vier getötet und vier schwer verletzt.
Der Pförtner lag tot auf der Straße. Die ungeheure Druckwelle hatte ihn vom Stuhl gefegt und durch das große Fenster seiner Loge nach draußen geschleudert.
Auch an anderen Stellen hatte sich die heftige, von innen nach außen zielende Stoßwirkung bis auf die Straße fortgepflanzt, teils noch weiter, bis hin zu den gegenüberliegenden Wohnblocks, deren Scheiben zersprungen waren.
Die Halle, größter Freiraum in der Nachbarschaft des Fahrstuhls, war übersät von Steinen, zersplittertem Glas und Gestänge.
Die Drehtür war aus ihrer Rotunde gedrückt worden und auf der Kühlerhaube eines Autos gelandet. Dabei war der Fahrer des Wagens getötet worden.
Unter den Straßenpassanten gab es mehrere Verletzte.
Um 18.10 Uhr waren die ersten Feuerwehren und Ambulanzen zur Stelle. Um 18.13 Uhr nahm eine Polizeidienststelle am Stadtrand einen Telefonanruf entgegen. Der Text war auf Band gesprochen und kam mehrmals, so daß der diensthabende Beamte mitschreiben konnte. Es hieß da:
»Hier spricht die Aktionsgemeinschaft BRAUNE KOLONNE. Wir haben vor zehn Minuten in
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