1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
mußten, so brauchten sie doch nicht mehr auf verschiedenen sozialen oder wirtschaftlichen Stufen zu stehen. Deshalb war vom Gesichtspunkt der neuen Gruppen, die im Begriff standen, die Macht zu ergreifen, menschliche Gleichheit kein erstrebenswertes Ideal mehr, sondern vielmehr eine Gefahr, die verhütet werden mußte. In primitiveren Zeitaltern, als eine gerechte und friedliche Gesellschaftsordnung tatsächlich nicht möglich war, war es ganz leicht gewesen, daran zu glauben. Die Vorstellung eines irdischen Paradieses, in dem die Menschen ohne Gesetze und ohne harte Arbeit in einem Verbrüderungszustand leben sollten, hatte der menschlichen Phantasie Tausende von Jahren vorgeschwebt. Und diese Vision hatte sogar noch einen gewissen Einfluß auf die Gruppen ausgeübt, die in Wirklichkeit aus jeder geschichtlichen Veränderung Vorteile zogen. Die Erben der französischen, englischen und amerikanischen Revolutionen hatten teilweise an ihre eigenen Phrasen von Menschenrechten, freier Meinungsäußerung, Gleichheit vor dem Gesetz und dergleichen mehr geglaubt und hatten sogar ihr Verhalten bis zu einem gewissen Grade davon beeinflussen lassen. Aber mit dem vierten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts wurden alle Hauptströmungen der politischen Denkweise autoritär. Das irdische Paradies war genau in dem Augenblick in Mißkredit geraten, in dem es sich verwirklichen ließ. Jede neue politische Theorie, wie immer sie sich nannte, führte zu Klassenherrschaft und Reglementierung. Und bei der ungefähr um das Jahr 1930 einsetzenden Vergröberung der moralischen Auffassung wurden Praktiken, die seit langem aufgegeben worden waren, in manchen Fällen seit Hunderten von Jahren – wie Inhaftierung ohne Gerichtsverhandlung, die Verwendung von Kriegsgefangenen als Arbeitssklaven, öffentliche Hinrichtungen, Folterung zur Erpressung von Geständnissen, das Gefangennehmen von Geiseln und die Deportation ganzer Bevölkerungsteile –, nicht nur wieder allgemein, sondern auch von Menschen geduldet und sogar verteidigt, die sich für aufgeklärt und fortschrittlich hielten.
Erst nach einem Jahrzehnt nationaler Kriege, Bürgerkriege, Revolutionen und Gegenrevolutionen in allen Teilen der Welt traten Engsoz und seine Rivalen als sich voll auswirkende politische Doktrinen hervor.
Aber sie waren von den verschiedenen, gewöhnlich totalitär genannten Systemen, die sich früher in diesem Jahrhundert bemerkbar machten, vorangezeigt worden, und die großen Umrisse der Welt, die aus dem herrschenden Chaos hervorgehen würde, waren seit langem offensichtlich gewesen. Was für eine Art von Menschen in dieser Welt die Macht ausüben würde, war gleicherweise offensichtlich gewesen. Die neue Aristokratie setzte sich zum größten Teil aus Bürokraten, Wissenschaftlern, Technikern, Gewerkschaftsfunktionären, Propagandafachleuten, Soziologen, Lehrern, Journalisten und Berufspolitikern zusammen. Diese Menschen, die aus dem Lohn empfangenden Mittelstand und der gehobenen Arbeiterschaft stammten, waren durch die dürre Welt der Monopol-Industrie und einer zentralisierten Regierung geformt und zusammengeführt worden. Mit ihren Gegenstücken in früheren Generationen verglichen, waren sie weniger besitzgierig, weniger auf Luxus versessen, mehr nach bloßer Macht hungrig, und vor allem sich ihres Handelns mehr bewußt und mehr darauf bedacht, die Opposition zu vernichten.
Dieser letztere Unterschied war grundlegend. Im Vergleich mit der heute herrschenden waren alle Tyranneien der Vergangenheit lau und unwirksam. Die herrschenden Gruppen waren immer bis zu einem gewissen Grade von liberalen Ideen infiziert und damit zufrieden gewesen, überall ein Hintertürchen offen zu lassen, um nur die offenkundige Tat ins Auge zu fassen und sich nicht darum zu kümmern, was ihre Untertanen dachten. Sogar die katholische Kirche des Mittelalters war, nach neuzeitlichen Maßstäben gemessen, duldsam. Ein teilweiser Grund hierfür war, daß in der Vergangenheit keine Regierung die Macht besaß, ihre Bürger unter dauernder Überwachung zu halten. Die Erfindung der Buchdruckerkunst machte es jedoch leichter, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, und Film und Radio förderten diesen Prozeß noch weiter. Mit der Entwicklung des Fernsehens und bei dem technischen Fortschritt, der es ermöglichte, mit Hilfe desselben Instruments gleichzeitig zu empfangen und zu senden, war das Privatleben zu Ende.
Jeder Bürger oder wenigstens jeder Bürger, der wichtig genug
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