1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
keine Klasse im althergebrachten Sinne des Wortes. Sie zielt nicht darauf ab, die Macht auf ihre eigenen Kinder als solche zu übertragen; nur wenn es keinen anderen Weg gäbe, die fähigsten Menschen an der Spitze zu halten, so wäre sie durchaus bereit, eine ganz neue Generation aus den Reihen des Proletariats zu rekrutieren. In den kritischen Jahren trug die Tatsache, daß die Partei keine erbliche Körperschaft war, viel zur Ausschaltung der Opposition bei. Ein Sozialist vom alten Gepräge, der darauf gedrillt worden war, gegen etwas, das man »Klassenvorrechte« nannte, zu kämpfen, nahm an, was nicht erblich ist, könne auch nicht dauernd sein. Er erkannte nicht, daß die Kontinuität einer Oligarchie keine leibliche zu sein braucht, auch hielt er sich nicht mit der Überlegung auf, daß erbliche Adelsherrschaften immer kurzlebig waren, während allen Menschen zugängliche Organisationen wie die katholische Kirche manchmal Hunderte oder Tausende von Jahren Bestand hatten. Das Wesentliche der oligarchischen Herrschaft ist nicht die Vererbung vom Vater auf den Sohn, sondern der Fortbestand einer gewissen Weltanschauung und einer gewissen Lebensweise, die von den Toten den Lebenden aufoktroyiert werden.
Eine herrschende Gruppe ist so lange eine herrschende Gruppe, als sie ihre Nachfolger bestimmen kann.
Der Partei geht es nicht darum, ewig ihr Blut, sondern sich selbst ewig zu behaupten. Wer die Macht ausübt, ist nicht wichtig, vorausgesetzt, daß die hierarchische Struktur immer dieselbe bleibt.
Alle für unsere Zeit charakteristischen Überzeugungen, Gewohnheiten, Geschmacksrichtungen, Meinungen, geistigen Einstellungen sind in Wirklichkeit dazu bestimmt, das Mystische der Partei aufrechtzuerhalten und zu verhindern, daß die wahre Natur der heutigen Gesellschaftsordnung erkannt wird. Leibliche Auflehnung oder jeder auf Auflehnung abzielende Schritt ist gegenwärtig nicht möglich. Von den Proletariern ist nichts zu befürchten. Sich selbst überlassen, werden sie von Generation zu Generation und von Jahrhundert zu Jahrhundert fortfahren zu arbeiten, Kinder in die Welt zu setzen und zu sterben, nicht nur ohne jeden Antrieb, zu rebellieren, sondern ohne sich auch nur vorstellen zu können, daß die Welt anders sein könnte, als sie ist. Sie könnten nur gefährlich werden, wenn die fortschreitende Entwicklung der industriellen Technik es notwendig machen sollte, ihnen eine höhere Erziehung angedeihen zu lassen; aber da die militärische und merkantile Konkurrenz keine Bedeutung mehr hat, ist das Niveau der öffentlichen Erziehung im Sinken begriffen. Welche Ansichten die Massen vertreten oder nicht vertreten, wird als belanglos angesehen. Man darf ihnen getrost geistige Freiheit einräumen, denn sie haben keinen Geist.
Andererseits kann bei einem Parteimitglied auch nicht die kleinste Meinungsabweichung in der unbedeutendsten Frage geduldet werden.
Ein Angehöriger der Partei lebt von der Geburt bis zum Tode unter den Augen der Gedankenpolizei.
Sogar wenn er allein ist, kann er nie sicher sein, ob er wirklich allein ist. Wo er auch sein mag, ob er schläft oder wacht, arbeitet oder ausruht, in seinem Bad oder in seinem Bett liegt, kann er ohne Warnung und ohne zu wissen, daß er beobachtet wird, beobachtet werden. Nichts, was er tut, ist gleichgültig. Seine Freundschaften, seine Zerstreuungen, sein Benehmen gegen seine Frau und seine Kinder, sein Gesichtsausdruck, wenn er allein ist, die von ihm im Schlaf gemurmelten Worte, sogar die ihm eigentümlichen Bewegungen seines Körpers, alles wird einer peinlich genauen Prüfung unterzogen. Nicht nur jedes wirkliche Vergehen, sondern jede Schrullenhaftigkeit, sie mag noch so unbedeutend sein, jede Gewohnheitsänderung, jede nervöse Absonderlichkeit, die möglicherweise das Symptom eines inneren Kampfes ist, können unweigerlich entdeckt werden. Er hat keine freie Wahl in keiner wie immer gearteten Hinsicht. Andererseits ist sein Verhalten weder gesetzlich noch durch klar formulierte Verhaltungsvorschriften geregelt. In Ozeanien gibt es kein Gesetz. Gedanken und Taten, die den sicheren Tod bedeuten, wenn sie entdeckt werden, sind nicht formell verboten, und die endlosen Säuberungsaktionen, Festnahmen, Folterungen, Einkerkerungen und Vaporisierungen werden nicht als Strafe für wirklich begangene Verbrechen verhängt, sondern sind lediglich die Austilgung von Menschen, die vielleicht einmal in der Zukunft ein Verbrechen begehen könnten. Von einem
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