1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
Es war das Produkt eines Geistes, der dem seinigen ähnelte, nur daß er viel, viel stärker, systematischer und weniger verängstigt war. Die besten Bücher, erkannte er, sind die, welche einem vor Augen führen, was man bereits weiß. Er hatte gerade zum ersten Kapitel zurückgeblättert, als er Julias Schritte auf der Treppe hörte und von seinem Stuhl aufsprang, um sie zu empfangen. Sie stellte ihre braune Werkzeugtasche auf den Boden ab und warf sich in seine Arme. Es war mehr als eine Woche her, seitdem sie einander zuletzt gesehen hatten.
»Ich habe das Buch «, sagte er, als sie sich voneinander freimachten.
»So, hast du's? Schön«, sagte sie ohne viel Interesse und kniete fast sogleich neben dem Petroleumkocher nieder, um Kaffee zu machen.
Sie kamen erst wieder auf das Thema zurück, als sie bereits eine halbe Stunde im Bett lagen. Der Abend war gerade kühl genug, daß es sich lohnte, die Steppdecken hochzuziehen. Von drunten erscholl der vertraute Gesang und das Scharren von Schuhen auf den Steinplatten. Die muskulöse Frau mit den roten Armen, die Winston bei seinem ersten Besuch dort gesehen hatte, war fast ein Inventarstück des Hofes. Es schien keine Tagesstunde zu geben, zu der sie nicht zwischen Waschzuber und Wäscheleine hin und her ging, wobei sie sich abwechselnd mit Wäscheklammern den Mund vollstopfte und schmalzige Lieder anstimmte. Julia hatte sich auf die Seite gekuschelt und schien bereits im Begriff einzuschlafen. Er griff nach dem Buch, das auf dem Fußboden lag, und setzte sich, gegen das Kopfteil des Bettes gelehnt, auf.
»Wir müssen es lesen«, sagte er. »Du auch. Alle Mitglieder der Brüderschaft müssen es lesen.«
»Lies du es«, sagte sie mit geschlossenen Augen. »Lies es laut vor. Das ist die beste Methode. Dann kannst du es mir gleich dabei erklären.«
Die Uhrzeiger deuteten auf sechs, was soviel hieß wie achtzehn Uhr. Sie hatten noch drei oder vier Stunden vor sich. Er stützte das Buch gegen seine Knie und begann zu lesen:
1. Kapitel
Unwissenheit ist Stärke
Seit Beginn der geschichtlichen Überlieferung, und vermutlich seit dem Ende des Steinzeitalters, gab es auf der Welt drei Menschengattungen: die Ober-, die Mittel- und die Unterschicht. Sie waren mehrfach unterteilt, führten zahllose verschiedene Namensbezeichnungen, und sowohl ihr Zahlenverhältnis wie ihre Einstellung zueinander wandelten sich von einem Jahrhundert zum anderen: Die Grundstruktur der menschlichen Gesellschaft jedoch hat sich nie gewandelt. Sogar nach gewaltigen Umwälzungen und scheinbar unwiderruflichen Veränderungen hat sich immer wieder die gleiche Ordnung durchgesetzt, ganz so wie ein Kreisel immer wieder das Gleichgewicht herzustellen bestrebt ist, wie sehr man ihn auch nach der einen oder anderen Seite neigt.
»Julia, bist du noch wach?« fragte Winston.
»Ja, Liebster, ich höre. Lies weiter. Es ist wundervoll.«
Er fuhr zu lesen fort:
Die Ziele dieser drei Gruppen sind miteinander vollkommen unvereinbar. Das Ziel der Oberen ist, sich da zu behaupten, wo sie sind. Das der Mittelklasse, mit den Oberen den Platz zu tauschen. Das der Unteren, wenn sie überhaupt ein Ziel haben – denn es ist ein bleibendes Charakteristikum der Unteren, daß sie durch die Mühsal zu zermürbt sind, um etwas anderes als hin und wieder ihr Alltagsleben ins Bewußtsein dringen zu lassen –, besteht darin, alle Unterschiede abzuschaffen und eine Gesellschaft ins Leben zu rufen, in der alle Menschen gleich sind. So wiederholt sich die ganze Geschichte hindurch ein in seinen Grundlinien gleicher Kampf wieder und immer wieder. Während langen Zeitspannen scheinen die Oberen sicher an der Macht zu sein, aber früher oder später kommt immer ein Augenblick, in dem sie entweder ihren Selbstglauben oder ihre Fähigkeit, streng zu regieren, oder beides verlieren. Dann werden sie von den Angehörigen der Mittelklasse gestürzt, die die Unteren auf ihre Seite ziehen, indem sie ihnen vormachen, für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Sobald sie ihr Ziel erreicht haben, drängen die Angehörigen der Mittelklasse die Unteren wieder in ihre alte Knechtschaftsstellung zurück, und sie selber werden die Oberen.
Bald darauf spaltet sich von einer der anderen Gruppen oder von beiden eine neue Mittelgruppe ab, und der Kampf beginnt wieder von vorne. Von den drei Gruppen gelingt es nur den Unteren nie, auch nur zeitweise ihre Ziele zu erreichen. Es wäre eine Übertreibung, zu sagen, daß im Verlauf der
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