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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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besteht von dem Gesichtspunkt unserer gegenwärtigen Machthaber aus die einzige wirkliche Gefahr in der Abspaltung einer neuen Gruppe von begabten, nicht genügend ausgefüllten, machthungrigen Menschen und dem Zunehmen von Liberalismus und Skeptizismus in ihren eigenen Reihen. Das Problem ist daher sozusagen erzieherischer Natur. Es besteht darin, dauernd das Denken sowohl der leitenden Gruppe als auch der größeren, unmittelbar nach ihr folgenden ausführenden Gruppe zu formen. Das Denken der Massen braucht nur in negativer Weise beeinflußt zu werden.
    Wenn man diesen Hintergrund kennt, so könnte man sich, wenn es einem nicht schon bekannt wäre, das Aussehen der allgemeinen Struktur der Gesellschaft Ozeaniens zusammenreimen. An der Spitze der Pyramide steht der Große Bruder. Der Große Bruder ist unfehlbar und allmächtig. Jeder Erfolg, jede Leistung, jeder Sieg, jede wissenschaftliche Entdeckung, alles Wissen, alle Weisheit, alles Glück, alle Tugend werden unmittelbar seiner Führerschaft und Eingebung zugeschrieben. Niemand hat je den Großen Bruder gesehen. Er ist ein Gesicht an den Litfaßsäulen, eine Stimme am Televisor. Wir können billigerweise sicher sein, daß er nie sterben wird, und es besteht bereits beträchtliche Unsicherheit in bezug auf das Datum seiner Geburt. Der Große Bruder ist die Vermummung, in der die Partei vor die Welt zu treten beschließt. Seine Funktion besteht darin, als Sammelpunkt für Liebe, Furcht und Verehrung zu dienen, Gefühle, die leichter einem einzelnen Menschen als einer Organisation entgegengebracht werden. Nach dem Großen Bruder kommt die Innere Partei, die ihrer Zahl nach nur sechs Millionen Mitglieder oder etwas weniger als zwei Prozent der Bevölkerung Ozeaniens umfaßt. Nach der Inneren Partei kommt die Äußere Partei, die, wenn man die Innere Partei als das Gehirn des Staates bezeichnet, berechtigterweise mit dessen Händen verglichen wird. Danach kommen die dumpfen Massen, die wir gewöhnlich als »die Proles« bezeichnen, der Zahl nach ungefähr fünfundachtzig Prozent der Bevölkerung. In der Bezeichnung unserer früheren Klassifizierung sind die Proles die Unterschicht; denn die Sklavenbevölkerung der äquatorialen Länder, die ständig von einem Eroberer zum anderen wechseln, sind kein dauernder und notwendiger Teil der Struktur.
    Im Prinzip ist die Zugehörigkeit zu diesen drei Gruppen nicht erblich. Das Kind von Eltern, die zur Inneren Partei gehören, ist in der Theorie nicht in die Innere Partei hineingeboren. Die Aufnahme in eine der beiden Gliederungen der Partei findet auf Grund einer im Alter von sechzehn Jahren abzulegenden Prüfung statt. Auch gibt es dort keine Rassenunterschiede, so wenig wie eine ausgesprochene Vorherrschaft einer Provinz gegenüber einer anderen. Juden, Neger, Südamerikaner von rein indianischem Geblüt sind in den höchsten Stellen der Partei zu finden, und die Sachwalter eines Gebietes sind immer der Einwohnerschaft dieses Gebietes entnommen. In keinem Teil Ozeaniens haben die Bewohner das Gefühl, eine von einer fernen Hauptstadt aus regierte Kolonialbevölkerung zu sein. Ozeanien hat keine Hauptstadt, und sein nominelles Oberhaupt ist ein Mensch, dessen Aufenthaltsort niemand kennt. Abgesehen davon, daß Englisch seine Umgangssprache ist und Neusprache seine Amtssprache, ist es in keiner Weise zentralisiert. Seine Machthaber sind nicht durch Blutsbande miteinander verbunden, sondern durch die Anhängerschaft an eine gemeinsame Lehre. Allerdings ist unsere Gesellschaft geschichtet, und zwar sehr streng geschichtet nach einer Ordnung, die auf den ersten Blick nach den Richtlinien der Vererbung ausgerichtet zu sein scheint. Es gibt weit weniger Hin und Her zwischen den verschiedenen Gruppen, als unter dem Kapitalismus oder sogar in den vorindustriellen Zeitaltern stattfand. Zwischen den beiden Gliederungen der Partei findet ein gewisser Austausch statt, aber nur gerade so viel, um zu gewährleisten, daß Schwächlinge aus der Inneren Partei ausgeschlossen und ehrgeizige Mitglieder der Äußeren Partei unschädlich gemacht werden dadurch, daß man ihnen emporzusteigen erlaubt. Proletariern wird in der Praxis nicht gestattet, in die Partei aufzurücken. Die begabtesten unter ihnen, die möglicherweise einen Unruheherd schaffen könnten, werden ganz einfach von der Gedankenpolizei vorgemerkt und liquidiert.
    Aber dieser Stand der Dinge ist nicht notwendigerweise ein Dauerzustand, auch ist er kein Prinzip. Die Partei ist

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