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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Geschichte kein materieller Fortschritt erzielt worden sei. Sogar heutzutage, in einer Periode des Niedergangs, ist der Durchschnittsmensch physisch besser daran, als er es vor ein paar Jahrhunderten war. Aber keine Steigerung des Wohlstandes, keine Milderung der Sitten, keine Reform oder Revolution hat die Gleichheit der Menschen jemals auch nur um einen Millimeter nähergebracht. Vom Gesichtspunkt der Unteren aus hat kein geschichtlicher Wandel jemals viel anderes bedeutet als eine Änderung der Namen ihrer Herren.
    Ende des neunzehnten Jahrhunderts war die Regelmäßigkeit dieses Turnus vielen Beobachtern zum Bewußtsein gekommen. Daraufhin entstanden damals philosophische Richtungen, die die Geschichte als einen sich zyklisch wiederholenden Prozeß auslegten und aufzeigen wollten, daß Ungleichheit ein unabänderliches Gesetz des menschlichen Lebens sei. Diese Lehre hatte natürlich schon immer ihre Anhänger gehabt, aber in der Art und Weise, wie sie jetzt in den Vordergrund trat, äußerte sich ein bezeichnender Wandel. In der Vergangenheit war die Notwendigkeit einer hierarchischen Gesellschaftsform die von den Oberen vertretene Doktrin gewesen. Sie war von Königen, Adeligen und Priestern, den mit der Rechtsprechung Betrauten und ähnlichen Leuten, die von ihnen schmarotzten, gepredigt und gewöhnlich durch Versprechungen einer Vergeltung in einer imaginären Welt jenseits des Grabes schmackhafter gemacht worden. Die Mitte hatte immer, solange sie um die Macht kämpfte, Worte wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im Munde geführt. Jetzt jedoch begann die Auffassung menschlicher Brüderlichkeit einer Kritik von Menschen unterzogen zu werden, die noch keine herrschende Stellung innehatten, sondern lediglich hofften, bald soweit zu sein. In der Vergangenheit hatte die Mitte Revolutionen unter dem Banner der Gleichheit gemacht und dann eine neue Tyrannei aufgerichtet, sobald die alte gestürzt war. Die neuen Mittelgruppen proklamierten ihre Tyrannei im voraus. Der Sozialismus, eine Theorie, die anfangs des neunzehnten Jahrhunderts auftauchte und das letzte Glied einer Gedankenkette war, die zu den Sklavenaufständen des Altertums zurückreichte, war noch heftig von dem Utopismus vergangener Zeitalter infiziert. Aber in jeder von 1900 an sich geltend machenden Spielart von Sozialismus wurde das Ziel, Freiheit und Gleichheit einzusetzen, immer unumwundener aufgegeben. Die neuen Bewegungen, die um die Mitte des Jahrhunderts auftauchten, nämlich Engsoz in Ozeanien, Neo-
    Bolschewismus in Eurasien, Sterbekult, wie er gewöhnlich bezeichnet wird, in Ostasien, setzten es sich bewußt zum Ziel, Un freiheit und Un gleichheit zu einem Dauerzustand zu machen. Diese neuen Bewegungen gingen natürlich aus den alten hervor und neigten dazu, deren Namen beizubehalten und ihren Ideologien Lippenlob zu zollen. Aber alle zielten darauf ab, dem Fortschritt Einhalt zu gebieten und die Geschichte in einem entsprechenden Augenblick für immer zum Stillstand zu bringen. Das übliche Ausschlagen des Pendels sollte noch einmal vor sich gehen, und dann sollte es stehen bleiben. Wie gewöhnlich sollten die Oberen von den Mittleren verdrängt werden, die damit die Oberen wurden. Aber diesmal würden die Oberen durch eine bewußte Strategie imstande sein, ihre Stellung für immer zu behaupten.
    Die neuen Lehren traten teils infolge der Anhäufung historischen Wissens und des zunehmenden Verständnisses für Geschichte, das es vor dem neunzehnten Jahrhundert kaum gegeben hatte, in Erscheinung. Die zyklische Bewegung der Geschichte war jetzt erkennbar oder schien es wenigstens zu sein.
    Und wenn sie erkennbar war, dann konnte man sie auch ändern. Aber der hauptsächliche, tiefere Grund lag darin, daß bereits anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts die Gleichheit der Menschen technisch möglich geworden war. Es war noch immer wahr, daß die Menschen nicht gleich waren in ihren angeborenen Begabungen und daß für die Erfüllung von Ausgaben eine Auswahl getroffen werden mußte, durch die einzelne gegenüber anderen bevorzugt wurden. Aber es bestand keine wirkliche Notwendigkeit mehr für Klassen- oder große Besitzunterschiede. In früheren Zeiten waren Klassenunterschiede nicht nur unvermeidbar, sondern sogar erwünscht gewesen. Ungleichheit war der Preis der Zivilisation. Mit der Weiterentwicklung der maschinellen Produktion änderte sich jedoch die Sachlage. Sogar wenn die Menschen noch die eine oder andere Arbeit selbst verrichten

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