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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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werden soll – wenn die Oberen, wie wir sie genannt haben, dauernd ihren Platz behaupten sollen –, dann muß die vorherrschende Geistesverfassung staatlich beaufsichtigter Irrsinn sein.
    Aber hier taucht eine Frage auf, die wir bis zu diesem Augenblick so gut wie außer acht gelassen haben.
    Sie lautet: Warum soll die Gleichheit der Menschen vermieden werden? Angenommen, der Mechanismus des Verfahrens wurde richtig geschildert: Was ist der Beweggrund für diesen großangelegten, genau vorgeplanten Versuch, die Geschichte an einem bestimmten Zeitpunkt zum Stillstand zu bringen? Hier kommen wir zu dem tiefsten Geheimnis. Wie wir gesehen haben, hängt das Mystische der Partei, vor allem der Inneren Partei, von dem Zwiedenken   ab. Aber tiefer als dieses liegt der ursprüngliche Beweggrund, der nie untersuchte Instinkt, der zuerst zur Machtergreifung führte und danach Zwiedenken , Gedankenpolizei, dauernden Kriegszustand und all das andere Drum und Dran mit sich brachte. Dieser Beweggrund besteht in Wahrheit darin . . .
    Winston wurde sich der Stille bewußt, so wie man sich eines neuen Geräusches bewußt wird. Es kam ihm vor, als sei Julia seit einiger Zeit sehr still gewesen. Sie lag, von der Hüfte aufwärts nackt, auf ihrer Seite, die Wange auf ihre Hand gebettet, während eine dunkle Locke über ihre Augen fiel. Ihre Brust hob und senkte sich langsam und regelmäßig.
    »Julia!«
    Keine Antwort.
    »Julia, bist du wach?«
    Keine Antwort. Sie schlief. Er klappte das Buch zu, legte es behutsam auf den Boden, streckte sich lang aus und zog die Bettdecke über sie beide.
    Er hatte, überlegte er, das letzte Geheimnis noch immer nicht gelöst. Er verstand das Wie , aber er verstand nicht das Warum . Das 1. Kapitel wie das 3. Kapitel hatte ihm in Wirklichkeit nichts enthüllt, was er nicht schon wußte; es hatte lediglich Ordnung in das Wissen gebracht, das er bereits besaß. Aber nachdem er es gelesen hatte, wußte er besser als zuvor, daß er nicht verrückt war. Zu einer Minderheit zu gehören, selbst zu einer Minderheit von einem einzigen Menschen, stempelte einen noch nicht als verrückt. Hier war die Wahrheit und dort war die Unwahrheit, und wenn man sogar gegen die ganze Welt an der Wahrheit festhielt, war man nicht verrückt. Ein gelber Strahl der untergehenden Sonne fiel schräg durchs Fenster und auf das Kissen, Er schloß die Augen. Die Sonne auf seinem Gesicht und der glatte Körper des Mädchens, der seinen eigenen berührte, gab ihm ein beruhigendes, einschläferndes, vertrauensvolles Gefühl. Er war in Sicherheit, alles war schön und gut. Im Einschlafen murmelte er vor sich hin: »Geistige Gesundheit ist keine statistische Angelegenheit« und hatte das Gefühl, diese Feststellung enthalte eine tiefe Weisheit.

Zehntes Kapitel
    Er erwachte mit dem Gefühl, lange Zeit geschlafen zu haben, aber ein Blick auf die altmodische Uhr belehrte ihn, daß es erst zwanzig Uhr dreißig war. Er lag eine Weile da und döste; dann drang vom Hof unten die übliche tiefe Singstimme herauf:
    »Es war nur ein tiefer Traum,
    Ging wie ein Apriltag vorbeiii,
    Aber sein Blick war leerer Schaum,
    Brach mir das Herz entzweiii!«
    Das törichte Lied schien sich seine Beliebtheit bewahrt zu haben. Man hörte es noch immer überall. Es hatte den Haßgesang überlebt. Julia wachte bei diesen Tönen auf, räkelte sich genießerisch und stieg aus dem Bett.
    »Ich bin hungrig«, sagte sie. »Machen wir uns noch einen Kaffee. Verflixt! Der Kocher ist ausgegangen, und das Wasser ist kalt.« Sie nahm den Kocher hoch und schüttelte ihn. »Kein Brennstoff mehr drin.«
    »Wir können sicher welchen vom alten Charrington bekommen.«
    »Das Komische ist nur, daß ich mich überzeugt hatte, daß er voll war. Ich ziehe rasch meine Sachen an«, fügte sie hinzu. »Es scheint kälter geworden zu sein.«
    Winston stand gleichfalls auf und zog sich an. Die unermüdliche Stimme sang weiter:
    »Man sagt, die Zeit heile alles,
    Es heißt, man kann alles vergessen,
    Aber vom Schmerz meines Falles,
    Von dem bleib' ich ewig besessen!«
    Während er den Gürtel seines Trainingsanzuges zumachte, schlenderte er hinüber zum Fenster. Die Sonne mußte hinter den Häusern untergegangen sein; sie schien nicht mehr in den Hof. Die Steinplatten waren feucht, als seien sie soeben gewaschen worden, und er hatte das Gefühl, als sei auch der Himmel gewaschen worden, so frisch und blaß war das Blau zwischen den Kaminrohren. Ohne zu erlahmen, ging die Frau unten hin

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