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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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und her, verkorkte und entkorkte ihren Mund mit Wäscheklammern, sang und schwieg wieder und hängte mehr und mehr und immer noch mehr Windeln auf. Er fragte sich, ob sie Wäsche zum Erwerb ihres Lebensunterhalts annahm oder lediglich die Sklavin von zwanzig oder dreißig Enkelkindern war. Julia war neben ihn getreten; zusammen blickten sie in einer Art Bezauberung hinunter auf die stämmige Gestalt. Wie er die Frau in ihrer charakteristischen Haltung betrachtete, ihre dicken Arme zur Wäscheleine emporgehoben, während ihre mächtigen, an eine Stute erinnernden Hinterbacken sich wölbten, kam es ihm zum erstenmal zum Bewußtsein, daß sie schön war. Es war ihm nie vorher in den Sinn gekommen, der Körper einer fünfzigjährigen Frau, der durch Geburten zu monströsen Ausmaßen gedunsen und dann durch Arbeit vergröbert und verhärtet war, bis seine grobe Haut der Schale einer überreifen Rübe ähnelte, könnte schön sein. Aber dem war so und, dachte er, warum auch nicht? Der feste, umrißlose Körper, der wie ein Granitblock war, und die rauhe rote Haut verhielten sich zu einem Mädchenleib genauso wie die Hagebutte zur Heckenrose. Warum sollte man die Frucht geringer schätzen als die Blume? »Sie ist schön«, murmelte er.
    »Sie mißt leicht einen Meter um die Hüften herum«, meinte Julia.
    »Das ist ihre Art von Schönheit«, sagte Winston.
    Sein Arm umspannte mühelos Julias biegsame Taille. Von der Hüfte bis zum Knie schmiegte sich ihr Körper an den seinen. Aus ihren Leibern würde nie ein Kind hervorgehen. Das war etwas, was sie nie tun konnten. Nur von Mund zu Mund, von einem Eingeweihten zum anderen, konnten sie das Geheimnis weitergeben. Die Frau da unten wußte von nichts, sie bestand nur aus starken Armen, einem warmen Herzen und einem fruchtbaren Leib. Er fragte sich, wie viele Kinder sie wohl geboren hatte. Es mochten leicht fünfzehn sein. Sie hatte ihre vielleicht ein Jahr währende kurze Blütezeit einer Wildrosen-Schönheit durchlebt und war dann plötzlich aufgegangen wie eine befruchtete Frucht, war hart, rot und derb geworden, und dann hatte ihr Leben ohne Unterbrechung dreißig Jahre hindurch aus Waschen, Reinemachen, Flicken, Kochen, Fegen, Putzen, Nähen, Schrubben, Wäschewaschen, erst für Kinder, dann für Enkelkinder, bestanden. Am Ende von alledem sang sie noch immer. Die geheimnisvolle Verehrung, die er für sie empfand, war irgendwie vermischt mit dem Anblick des hellen, wolkenlosen Himmels, der sich hinter den Kaminrohren in grenzenlose Ferne erstreckte. Es war merkwürdig zu denken, daß der Himmel für jedermann gleich war, in Eurasien oder Ostasien so gut wie hier. Und die Menschen unter dem Himmel waren auch fast ganz gleich – überall auf der ganzen Welt, Hunderte oder Tausende von Millionen Menschen, die auch so waren; Menschen, bei denen einer nichts vom Leben des anderen wußte, die von Mauern des Hasses und der Lüge getrennt gehalten wurden und doch fast gleich waren –, Menschen, die nie denken gelernt hatten, die aber in ihren Herzen und Leibern und Muskeln die Macht aufspeicherten, die eines Tages die Welt umstürzen würde. Wenn es eine Hoffnung gab, dann lag sie bei den Proles! Ohne das Buch zu Ende gelesen zu haben, wußte er, daß darin Goldsteins letzte Botschaft bestehen mußte. Die Zukunft gehörte den Proles. Aber konnte er sicher sein, daß die Welt, die sie aufbauten, ihm, Winston Smith, nicht ebenso fremd sein würde wie die Welt der Partei? Ja, denn letzten Endes würde es eine geistig gesunde Welt sein. Wo Gleichheit gilt, da kann der gesunde Menschenverstand walten. Früher oder später würde es dahin kommen, die Kraft würde sich ihrer bewußt werden. Die Proles waren unsterblich, daran konnte man nicht zweifeln, wenn man diese tapfere Gestalt im Hof ansah. Zu guter Letzt würden sie erwachen. Und bis es soweit war – wenn es auch tausend Jahre dauern mochte –, würden sie trotz aller Unbilden sich am Leben erhalten wie die Vögel und von Leib zu Leib die Lebenskraft weitergeben, an der die Partei nicht teilhatte und die sie nicht umbringen konnte.
    »Erinnerst du dich«, sagte er, »an die Drossel, die uns an jenem ersten Tag am Rand des Wäldchens etwas vorsang?«
    »Sie sang nicht für uns«, sagte Julia. »Sie sang zu ihrem Vergnügen. Noch nicht einmal das. Sie sang nur eben.«
    Die Vögel sangen, die Proles sangen, aber die Partei sang nicht. In der ganzen Welt, in London und New York, in Afrika, Brasilien und in den geheimnisvollen

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