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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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verbotenen Ländern hinter den Grenzen, in den Straßen von Paris und Berlin, in den Dörfern der endlosen russischen Weite, in den Basaren von China und Japan – überall stand die gleiche feste, unerschütterliche Gestalt, unförmig geworden durch Arbeit und Niederkünfte, die von der Wiege bis zum Grabe schwer schuftet und dennoch singt. Aus diesem mächtigen Schoß mußte eines Tages ein Geschlecht wissender Menschen hervorgehen. Ihr seid die Toten; die Zukunft gehört ihnen. Aber man konnte teilhaben an dieser Zukunft, wenn man den Geist lebendig erhielt, so wie sie den Leib lebendig erhielten, und die geheime Lehre weitergab, daß zwei und zwei gleich vier ist.
    »Wir sind die Toten«, sagte er.
    »Wir sind die Toten«, betete Julia getreulich nach.
    »Ihr seid die Toten«, sagte eine eiserne Stimme hinter ihnen.
    Sie fuhren auseinander. Winston fühlte seine Eingeweide zu Eis erstarren. Er konnte rund um die Iris von Julias Augen das Weiße sehen. Ihr Gesicht hatte sich milchiggelb verfärbt. Das noch auf jedem Backenknochen vorhandene Rouge hob sich scharf ab, fast wie ohne Zusammenhang mit der Haut darunter.
    »Ihr seid die Toten«, wiederholte die eiserne Stimme.
    »Es kam hinter dem Bild hervor«, flüsterte Julia.
    »Es kam hinter dem Bild hervor«, sagte die Stimme. »Bleibt genau da stehen, wo ihr seid. Macht keine Bewegung, ehe es euch befohlen wird.«
    Es war soweit, endlich war es soweit! Sie konnten nichts machen, außer dazustehen und einander in die Augen zu starren. Auf und davon zu laufen, das Haus zu verlassen, ehe es zu spät war – ein solcher Gedanke kam ihnen gar nicht. Unvorstellbar, der eisernen Stimme von der Wand nicht zu gehorchen. Man hörte ein Schnappen, so als sei ein Haken zurückgedreht worden, und das Krachen splitternden Glases. Das Bild war auf den Boden gefallen, so daß der dahinter angebrachte Televisor zum Vorschein kam.
    »Jetzt können sie uns sehen«, sagte Julia.
    »Jetzt können wir euch sehen«, sagte die Stimme. »Stellt euch in die Mitte des Zimmers. Stellt euch Rücken an Rücken. Verschränkt die Hände hinter euren Köpfen. Berührt einander nicht.«
    Sie berührten einander nicht, aber es kam ihm vor, als könnte er Julias Körper zittern fühlen. Oder vielleicht war es nur das Zittern seines eigenen. Er konnte mit Mühe verhindern, daß seine Zähne klapperten, aber er hatte keine Gewalt über seine Knie. Unten im Hof und im Haus war ein Geräusch von trampelnden Stiefeln zu hören. Der Hof schien voll mit Menschen zu sein. Etwas wurde über die Steine geschleift. Der Gesang der Frau war jäh abgebrochen. Man hörte ein langes, rumpelndes Klirren, so als sei der Waschzuber über den Hof geschleudert worden, und dann ein Durcheinander ärgerlicher Rufe, das mit einem Schmerzensschrei endete:
    »Das Haus ist umzingelt«, sagte Winston.
    »Das Haus ist umzingelt«, sagte die Stimme.
    Er hörte Julia die Zähne aufeinander beißen. »Ich glaube, wir können ebenso gut voneinander Abschied nehmen«, sagte sie.
    »Ihr könnt ebenso gut voneinander Abschied nehmen«, sagte die Stimme. Und dann fiel eine andere, grundverschiedene Stimme, eine leise, gebildete Stimme, von der Winston den Eindruck hatte, sie bereits früher gehört zu haben ein: »Und bei der Gelegenheit, weil wir gerade bei dem Thema sind: Here comes a candle to light you to bed, here comes a chopper to chop off your head!«
    Etwas prasselte hinter Winstons Rücken aufs Bett. Die Spitze einer Leiter war durchs Fenster geschoben worden und hatte den Rahmen zertrümmert. Jemand kletterte durchs Fenster herein. Die Treppen herauf hörte man wildes Füßegetrappel. Das Zimmer war voll kräftiger Männer in schwarzen Uniformen, mit eisenbeschlagenen Stiefeln an den Füßen und Gummiknüppeln in den Händen.
    Winston zitterte nicht mehr. Sogar seine Augen bewegten sich kaum. Es galt nur eines: stillzuhalten, stillzuhalten und ihnen keinen Vorwand zu bieten, einen zu schlagen! Ein Mann mit der glattrasierten Kinnlade eines Preisboxers, in dem der Mund nur ein Schlitz war, blieb vor ihm stehen und wippte seinen Gummiknüppel nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger. Winston begegnete seinem Blick. Das Gefühl der Nacktheit, mit seinen hinter dem Kopf verschränkten Händen und sein Gesicht und Körper völlig ungeschützt, war nahezu unerträglich. Der Mann streckte die Spitze einer weißen Zunge heraus, leckte über die Stelle, wo seine Lippen hätten sein sollen, und ging dann weiter. Ein erneutes

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