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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Krachen erfolgte. Jemand hatte den gläsernen Briefbeschwerer vom Tisch genommen und ihn auf der Kaminplatte in Stücke geschlagen.
    Das Korallenstückchen, ein winzigkleiner rosafarbener Ast wie ein Zuckerkringel von einer Torte, rollte über die Bodenmatte. Wie klein, mußte Winston denken, wie klein es doch war! Hinter ihm ein Keuchen und ein dumpfer Aufschlag, und er erhielt einen heftigen Stoß gegen den Fußknöchel, der ihn beinahe aus dem Gleichgewicht warf. Einer der Männer hatte Julia einen Faustschlag in die Magengrube versetzt, was sie wie ein Taschenmesser zusammenklappen ließ. Sie wand sich am Boden, nach Luft ringend. Winston wagte nicht, seinen Kopf auch nur um einen Millimeter zu drehen, aber manchmal geriet ihr bläuliches, atemschnappendes Gesicht in sein Blickfeld. Sogar in seiner Herzensangst war es, als könnte er den Schmerz am eigenen Leib spüren, den unerträglichen Schmerz, der dennoch weniger vordringlich war als das Ringen nach Luft. Er wußte, wie das war: der schreckliche, qualvolle Schmerz, der die ganze Zeit da war, dem man aber noch nicht nachgeben konnte, denn vor allem anderen mußte man Atem schöpfen. Dann hoben zwei von den Männern sie an Knien und Schultern hoch und trugen sie wie einen Sack aus dem Zimmer. Winston konnte einen flüchtigen Anblick von ihrem Gesicht erhaschen: es war verwüstet, gelb und verzerrt, die Augen geschlossen und noch immer mit etwas Rouge auf jeder Wange. Das war das letzte, was er von ihr sah.
    Er stand unbeweglich da. Noch hatte ihn niemand geschlagen. Gedanken, die sich ungewollt einstellten, aber völlig uninteressant schienen, begannen ihm durch den Kopf zu huschen. Er fragte sich, ob sie auch Herrn Charrington festgenommen hatten. Und was hatten sie mit der Frau im Hof getan? Er merkte, daß er dringend Wasser lassen mußte, und war ein wenig erstaunt darüber, denn er hatte das erst vor zwei oder drei Stunden getan. Er bemerkte, daß die Uhr auf dem Kaminsims auf neun zeigte, was soviel bedeuten sollte wie einundzwanzig Uhr. Aber das Licht schien zu hell. War es an einem Augustabend um einundzwanzig Uhr nicht schon dunkler? Er fragte sich, ob nicht am Schluß er und Julia sich in der Zeit geirrt – einen Tag überschlafen und gedacht hatten, es sei zwanzig Uhr dreißig, während es in Wirklichkeit genau acht Uhr dreißig am nächsten Morgen war. Aber er verfolgte den Gedanken nicht weiter. Es war nicht interessant.
    Auf dem Gang näherte sich jetzt ein anderer, leichterer Schritt. Herr Charrington kam ins Zimmer. Das Benehmen der schwarzuniformierten Männer wurde plötzlich unterwürfiger. Auch in Herrn Charringtons Äußerem hatte sich etwas verändert. Sein Blick fiel auf die Splitter des gläsernen Briefbeschwerers.
    »Diese Splitter aufheben«, sagte er scharf.
    Ein Mann bückte sich, um zu gehorchen. Der Londoner Vorstadtakzent war verschwunden; Winston war sich plötzlich darüber im klaren, wessen Stimme es war, die er vor ein paar Augenblicken am Televisor gehört hatte. Herr Charrington hatte noch immer seine alte Samtjacke an, aber sein Haar, das fast weiß gewesen war, hatte sich in Schwarz verwandelt. Auch trug er keine Brille. Er warf nur einen einzigen scharfen Blick auf Winston, so als stelle er seine Identität fest, und schenkte ihm dann keine Aufmerksamkeit mehr. Er war noch erkennbar, aber er war nicht mehr derselbe Mensch. Sein Körper hatte sich gestrafft und schien größer geworden zu sein. Sein Gesicht hatte nur geringfügige Veränderungen erfahren, die trotzdem eine vollständige Verwandlung herbeigeführt hatten. Die schwarzen Augenbrauen waren weniger buschig, die Falten verschwunden, die ganze Physiognomie schien sich verändert zu haben; sogar die Nase wirkte kürzer. Es war das aufgeweckte, kalte Gesicht eines Mannes von etwa fünfunddreißig Jahren. Es kam Winston zum Bewußtsein, daß er zum erstenmal in seinem Leben wissentlich einem Mitglied der Gedankenpolizei gegenüberstand.

Dritter Teil
Erstes Kapitel
    Er wußte nicht, wo er sich befand. Wahrscheinlich war er im Ministerium für Liebe; aber es bestand keine Möglichkeit, sich zu vergewissern.
    Er befand sich in einer hohen, fensterlosen Zelle mit Wänden aus schimmernden weißen Kacheln.
    Verborgene Lampen durchfluteten sie mit kaltem Licht, und ein leises, ständig summendes Geräusch war zu hören, von dem er annahm, daß es etwas mit der Lüftung zu tun hatte. Eine Bank oder Pritsche, gerade breit genug, um darauf zu sitzen, lief rings um die Wand

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