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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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allen Fällen richtig waren. Sondern es darf auch nie eine Veränderung in der Doktrin oder in der politischen Ausrichtung zugegeben werden. Denn seine Ansicht oder gar seine Politik zu ändern, ist ein Eingeständnis der Schwäche. Wenn zum Beispiel Eurasien oder Ostasien (welches es auch sein mag) der Feind von heute ist, dann muß dieses Land schon immer der Feind gewesen sein. Und wenn die Tatsachen anders lauten, dann müssen die Tatsachen eben geändert werden. Auf diese Weise wird die Geschichte dauernd neu geschrieben. Diese Fälschung der Vergangenheit von einem Tag auf den anderen, die vom Wahrheitsministerium durchgeführt wird, ist für den Bestand des Regimes ebenso notwendig wie die von dem Ministerium für Liebe besorgte Unterdrückungs- und Bespitzelungstätigkeit.
    Die Veränderlichkeit der Vergangenheit ist die Grundlehre von Engsoz . Vergangene Geschehnisse, wird darin bedeutet, haben keinen objektiven Bestand, sondern leben nur in schriftlichen Aufzeichnungen und im Gedächtnis der Menschen weiter. Die Vergangenheit sieht so aus, wie es die Aufzeichnungen und die Erinnerungen wahrhaben wollen. Und da die Partei alle Aufzeichnungen vollkommen unter ihrer Kontrolle hat, so wie sie auch die Denkweise ihrer Mitglieder unter ihrer ausschließlichen Kontrolle hat, folgt daraus, daß die Vergangenheit so aussieht, wie die Partei sie darzustellen beliebt. Auch folgt daraus, daß die Vergangenheit, wenn sie auch wandelbar ist, doch nie in einem besonderen Einzelfall abgewandelt wurde.
    Denn wenn sie in der im Augenblick benötigten Form neu geschaffen worden ist, dann ist eben diese neue Version die Vergangenheit, und eine andere Version kann es nie gegeben haben. Das gilt auch dann, wenn ein und dasselbe Ereignis, wie es häufig vorkommt, im Laufe eines Jahres mehrmals nicht wiedererkennbar abgeändert werden muß. Die Partei ist jederzeit im Besitz der wirklichen Wahrheit, und klarerweise kann die Wirklichkeit nie anders ausgesehen haben als jetzt. Man wird sehen, daß die Kontrolle über die Vergangenheit vor allem von der Schulung des Gedächtnisses abhängt. Dafür zu sorgen, daß alle schriftlichen Aufzeichnungen sich mit der Forderung des Augenblicks decken, ist eine lediglich mechanische Handlung. Aber man muß sich auch daran erinnern , daß Ereignisse in der gewünschten Form stattfanden.
    Und wenn es nottut, seine Erinnerungen umzuordnen oder mit schriftlichen Aufzeichnungen willkürlich umzuspringen, dann gilt es zu vergessen , daß man das getan hat. Das Verfahren, wie man das macht, ist ebenso erlernbar wie jedes andere Geistestraining. Die Mehrzahl der Parteimitglieder hat es gelernt und jedenfalls alle diejenigen, die sowohl klug als auch rechtgläubig sind. In der Altsprache wird es, recht unverhohlen, als »Wirklichkeitskontrolle« bezeichnet. In der Neusprache heißt es Zwiedenken , wenn auch Zwiedenken   noch viele andere Bedeutungen hat.
    Zwiedenken bedeutet die Gabe, gleichzeitig zwei einander widersprechende Ansichten zu hegen und beide gelten zu lassen. Der Parteiintellektuelle weiß, in welcher Richtung seine Erinnerungen geändert werden müssen. Er weiß deshalb auch, daß er mit der Wirklichkeit jongliert. Aber durch das Einschalten von Zwiedenken beschwichtigt er sich auch dahingehend, daß der Wirklichkeit nicht Gewalt angetan wird. Das Verfahren muß bewußt sein, sonst würde es nicht mit genügender Präzision ausgeführt werden, es muß aber auch unbewußt sein, sonst brächte es ein Gefühl der Falschheit und damit der Schuld mit sich. Zwiedenken ist der eigentliche Wesenskern von Engsoz, denn das grundlegende Verfahren der Partei besteht darin, eine bewußte Täuschung auszuüben und dabei eine Zweckentschlossenheit zu bewahren, wie sie restloser Ehrlichkeit eignet. Bewußte Lügen zu erzählen, während man ehrlich an sie glaubt; jede Tatsache zu vergessen, die unbequem geworden ist, um sie dann, wenn man sie wieder braucht, nur eben so lange, als notwendig ist. aus der Vergessenheit hervorzuholen; das Vorhandensein einer objektiven Wirklichkeit zu leugnen und die ganze Zeit die von einem geleugnete Wirklichkeit in Betracht zu ziehen – alles das ist unerläßlich notwendig. Allein schon beim Gebrauch des Wortes Zwiedenken ist es unumgänglich, Zwiedenken auszuüben. Denn indem man das Wort gebraucht, gibt man zu, daß man mit der Wirklichkeit willkürlich umspringt; durch einen erneuten Akt von Zwiedenken   löscht man dieses Wissen aus; und so unbegrenzt weiter,

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