1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
Kirche gewesen. St. Clement's Dane hieß sie.« Er lächelte, wie um Verzeihung heischend, als sei er sich bewußt, etwas leicht Lächerliches zu sagen, und fügte hinzu: »Oranges and lemons, say the bells of St.
Clement's!«
»Was soll das bedeuten?« fragte Winston.
»Ei nun – ›Oranges and lemons, say the bells of St. Clement's‹. Das war ein Abzählreim, den wir sangen, als ich noch ein kleiner Junge war. Wie er weitergeht, erinnere ich mich nicht. Ich weiß nur, daß es am Schluß heißt: ›Here comes a candle to light you to bed, here comes a chopper to chop off your head.‹ Es war so eine Art Ringelreihen. Die Kinder hielten die Arme hoch, damit man drunter durchgehen konnte, und wenn man zu ›Here comes a chopper to chop off your head‹ kam, ließen sie die Arme sinken, und man war gefangen. Es waren lauter Namen von Kirchen. Alle Londoner Kirchen kamen drin vor – die bekanntesten, meine ich.«
Winston fragte sich, aus welchem Jahrhundert die Kirche stammte. Es war immer schwierig, das Zeitalter eines Londoner Gebäudes zu bestimmen. Alles Große und Eindrucksvolle wurde, wenn es einigermaßen neu aussah, automatisch als ein Neubau der Revolution in Anspruch genommen, während alles, was offenkundig früheren Datums war, einer dunklen und unbestimmten Epoche zugeschrieben wurde, die man als Mittelalter bezeichnete. Von den Jahrhunderten des Kapitalismus wurde so getan, als hätten sie nichts von irgendwelchem Wert hervorgebracht. Von der Architektur konnte man ebenso wenig Geschichte ablesen wie aus den Büchern. Statuen, Inschriften, Denkmäler, Straßennamen – alles, was Licht auf die Vergangenheit werfen konnte, war systematisch abgeändert worden.
»Ich wußte gar nicht, daß es eine Kirche war«, sagte Winston.
»Es stehen in Wirklichkeit noch eine ganze Menge Kirchen«, sagte der alte Mann, »wenn sie auch anderen Zwecken zugeführt wurden. Wie ging doch jetzt gleich dieser Reim weiter? Ach, ich hab's! ›Oranges and lemons, Say the bells of St. Clement's, You owe me three farthings, Say the bells of St. Martins . . .‹
Sehen Sie, soweit bringe ich's zusammen. Ein Farthing war eine kleine Kupfermünze, ungefähr wie ein Cent.«
»Wo stand St. Martin's?« fragte Winston.
»St. Martin's? Es steht noch. Am Victory-Square, neben der Bildergalerie. Ein Gebäude mit einer Art dreieckiger Vorhalle, einem Säulenvorbau und großen, breiten Stufen, die hinaufführen.«
Winston kannte das Gebäude gut. Es war ein Museum für die Ausstellung von verschiedenartigem Propagandamaterial: von verkleinerten Modellen von Raketengeschossen, Schwimmenden Festungen, Wachsnachbildungen feindlicher Greueltaten und dergleichen.
»St. Martin's in the Fields wurde die Kirche damals immer genannt«, ergänzte der alte Mann, »obwohl ich mich an keine Felder in dieser Gegend erinnern kann.«
Winston kaufte das Bild nicht. Es wäre als Besitztum sogar noch belastender gewesen als der gläserne Briefbeschwerer und unmöglich nach Hause zu tragen, wenn man es nicht aus dem Rahmen herauslöste.
Aber er blieb noch ein paar Minuten und unterhielt sich mit dem alten Mann, der übrigens, wie er herausfand, nicht Weeks hieß, wie man nach der Aufschrift auf dem Ladenschild hätte annehmen können, sondern Charrington. Herr Charrington, stellte sich heraus, war ein Witwer von dreiundsechzig und hatte dreißig Jahre lang in diesem Laden gewohnt. Diese ganze Zeit über hatte er die Absicht gehabt, den Namen über dem Schaufenster zu ändern, war aber doch nie dazu gekommen. Wahrend ihrer ganzen Unterhaltung wollte Winston der nur halb erinnerte Kinderreim nicht aus dem Kopf gehen. Oranges and lemons, say the bells of St. Clement's. You owe me three farthings, say the bells of St. Martin's! Es war seltsam: wenn man es vor sich hinsagte, hatte man die Illusion, tatsächlich Glocken läuten zu hören, die Glocken eines verschollenen Londons, das doch noch da oder dort, ganz entstellt und vergessen, vorhanden war. Von einem geisterhaften Kirchturm nach dem ändern glaubte er das Geläut zu hören. Dabei hatte er, soviel er sich erinnern konnte, in Wirklichkeit noch nie im Leben Kirchenglocken läuten hören.
Er verabschiedete sich von Herrn Charrington und stieg allein die Treppe hinunter, um den alten Mann nicht merken zu lassen, daß er erst einen forschenden Blick auf die Straße warf, ehe er aus der Tür trat. Er hatte innerlich bereits beschlossen, nach einer entsprechenden Wartezeit – vielleicht nach
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