1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
blecherne Frauenstimme ein patriotisches Lied. Er saß da und starrte, in dem Versuch, die Stimme aus seinem Bewußtsein auszuschalten, den marmorierten Buchdeckel an.
Nachts holten sie einen, immer in der Nacht. Das Richtige war, sich umzubringen, ehe sie einen abholten. Zweifellos gab es Menschen, die das taten. Viele Fälle von Verschwinden waren in Wirklichkeit Selbstmorde. Aber man brauchte den Mut der Verzweiflung, um sich in einer Welt, in der Feuerwaffen oder ein rasch wirkendes Gift vollkommen unmöglich zu beschaffen waren, selbst zu töten. Er dachte mit Staunen an die biologische Sinnlosigkeit von Schmerz und Angst, an den erbärmlichen Verrat des menschlichen Körpers, der immer genau in dem Augenblick in Schwäche verfällt, in dem man von ihm eine besondere Anstrengung benötigt. Er hätte das dunkelhaarige Mädchen zum Schweigen bringen können, wenn er nur rasch genug gehandelt hätte, aber gerade infolge der Größe der ihm drohenden Gefahr hatte er die Fähigkeit zum Handeln verloren. Es kam ihm zu Bewußtsein, daß man in Momenten höchster Gefahr nie gegen einen von außen kommenden Feind ankämpft, sondern immer nur gegen den eigenen Körper.
Sogar jetzt, trotz des Gins, machte der dumpfbohrende Schmerz in seinem Bauch ein zusammenhängendes Denken unmöglich. Und in allen scheinbar heldischen oder tragischen Lagen, erkannte er, ist es das gleiche.
Auf dem Schlachtfeld, in der Folterkammer, auf einem untergehenden Schiff werden die entscheidenden Dinge, um derentwillen man kämpft, immer vergessen, weil der Körper sich vordrängt, bis er die ganze Welt ausfüllt. Und selbst wenn man nicht vor Angst gelähmt ist oder nicht vor Schmerz aufschreit, ist das Leben immer ein Kampf, von einem Augenblick zum ändern, gegen Hunger oder Kälte oder Schlaflosigkeit, gegen einen verdorbenen Magen oder einen schmerzenden Zahn.
Er schlug sein Tagebuch auf. Es war wichtig, jetzt etwas niederzuschreiben. Die Frau im Televisor hatte ein neues Lied angestimmt. Ihre Stimme schien sein Gehirn wie zackige Glassplitter zu durchbohren. Er versuchte an O'Brien zu denken, für den, an den er sein Tagebuch geschrieben hatte, aber statt dessen begann er darüber nachzudenken, was mit ihm geschehen würde, nachdem ihn die Gedankenpolizei abgeführt hatte. Es wäre ja nicht so schlimm, wenn sie einen gleich umbrächten. Man war darauf gefaßt, getötet zu werden. Aber vor dem Tod (niemand sprach von diesen Dingen, und doch wußte sie jeder) kam erst das unvermeidliche Erpressen von Geständnissen: das Herumkriechen auf dem Boden und das Um-Gnade-Flehen, das Krachen zermalmter Knochen – die eingeschlagenen Zähne und die blutigen Haarbüschel. Warum mußte man das durchmachen, da doch das Ende immer das gleiche war? Warum war es nicht möglich, ein paar Tage oder Wochen aus seinem Leben einfach zu streichen? Niemand entging jemals der Entdeckung, und niemand hatte je verfehlt, ein Bekenntnis abzulegen. Hatte man erst einmal ein Gedankenverbrechen begangen, so war es sicher, daß man nach einer bestimmten Zeit tot war. Warum mußte einen dann dieses Entsetzliche, das doch nichts änderte, im Schoße der Zukunft erwarten? Er versuchte, mit ein wenig mehr Erfolg als zuvor, sich das Bild O'Briens vorzustellen. »Wir werden uns wiedersehen, wo keine Dunkelheit herrscht«, hatte O'Brien zu ihm gesagt. Er wußte, was das bedeutete, oder glaubte es zu wissen. Der Ort, an dem keine Dunkelheit herrscht, war die erträumte Zukunft, die man nie erleben würde, deren man aber durch Vorausschau in geheimnisvoller Weise teilhaftig werden konnte.
Aber während die Stimme aus dem Televisor ihm die Ohren voll dröhnte, konnte er den Gedankengang nicht weiter verfolgen. Er steckte sich eine Zigarette an. Prompt fiel die Hälfte des Tabaks heraus auf seine Zunge, ein bitter schmeckender Staub, der sich nur schwer wieder ausspucken ließ. In Gedanken schwebte ihm das Gesicht des Großen Bruders vor und verdrängte das O'Briens. Genau wie er es vor ein paar Tagen getan hatte, zog er eine Münze aus der Tasche und betrachtete sie. Das Gesicht starrte zu ihm empor, ernst, ruhig, beschützend, doch welches Lächeln mochte sich hinter dem dunklen Schnurrbart verbergen? K R I E G B E D E U T E T F R I E D E N F R E I H E I T I S T S K L A V E R E I U N W I S S E N H E I T I S T S T Ä R K E Wie Grabgeläute fielen ihm wieder diese Worte ein.
Zweiter Teil
Erstes Kapitel
Es war mitten am Vormittag; Winston hatte seine Arbeitsnische verlassen,
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