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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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einem Monat – das Risiko auf sich zu nehmen und den Laden nochmals zu besuchen. Es war vielleicht nicht gefährlicher, als einen Gemeinschaftsabend zu schwänzen. Die eigentliche Tollkühnheit war gewesen, überhaupt noch einmal hierher zu kommen, nachdem er das Diarium gekauft hatte und nicht wissen konnte, ob man dem Ladeneigentümer trauen durfte. Aber sei's drum –! Ja, er dachte noch einmal, er würde wiederkommen. Er würde andere Reste von schönem Tand kaufen.
    Er würde den Stich von St. Clement's Dane erstehen, ihn aus dem Rahmen nehmen und unter der Bluse eines Trainingsanzugs versteckt nach Hause tragen. Er würde auch noch die übrigen Strophen dieses Kinderreims aus Herrn Charringtons Gedächtnis herauslocken. Sogar der wahnwitzige Plan, das Zimmer im Obergeschoß zu mieten, durchzuckte für einen Augenblick seinen Kopf. Fünf Sekunden lang vielleicht machte ihn seine Hochstimmung unvorsichtig, und er trat, ohne auch nur vorher zur Sicherung einen Blick durchs Fenster zu werfen, hinaus auf die Straße. Er hatte sogar zu einer improvisierten Melodie zu summen angefangen:
    »Oranges and lemons,
    Say the bells of St. Clement's,
    You owe me three farthings,
    Say the –«
    Plötzlich erstarrte sein Herz zu Eis, und seine Knie wurden wachsweich. Eine Gestalt im blauen Trainingsanzug kam ihm, keine zehn Meter entfernt, auf der Straße entgegen. Es war das Mädchen der Literaturabteilung, das Mädchen mit dem dunklen Haar. Die Beleuchtung war schlecht, aber er konnte sie ohne weiteres erkennen. Sie blickte ihm gerade ins Gesicht und ging dann rasch weiter, als habe sie ihn nicht bemerkt.
    Ein paar Sekunden war Winston wie gelähmt und konnte keinen Fuß vor den anderen setzen. Dann bog er nach rechts ab und schritt rasch aus, ohne im ersten Augenblick zu merken, daß er in der verkehrten Richtung ging. Eines stand jedenfalls fest. Es gab keinen Zweifel mehr, daß das Mädchen ihm nachspionierte. Sie mußte ihn verfolgt haben, denn es war nicht glaubhaft, daß sie aus reinem Zufall am selben Abend durch dieselbe obskure Hintergasse kam, kilometerweit von allen Vierteln entfernt, in denen Parteimitglieder wohnten. Es wäre ein zu großer Zufall gewesen. Ob sie wirklich eine Agentin der Gedankenpolizei oder lediglich ein von übertriebenem Diensteifer inspirierter Amateur-Spitzel war, blieb sich so ziemlich gleich. Es genügte, daß sie ihn beobachtete. Vermutlich hatte sie ihn auch in die Kneipe hineingehen sehen.
    Ihm wurde das Gehen schwer. Der gläserne Gegenstand in seiner Tasche schlug bei jedem Schritt an seine Hüfte, und er dachte halb und halb daran, ihn herauszuziehen und wegzuwerfen. Das Schlimmste waren seine Leibschmerzen. Ein paar Augenblicke lang hatte er das Gefühl, er würde sterben, wenn er nicht bald eine Toilette erreichte. Doch in einem solchen Viertel gab es wohl keine öffentlichen Bedürfnisanstalten. Dann lösten sich die Krämpfe und ließen nur einen dumpfen Schmerz zurück.
    Die Straße war eine Sackgasse. Winston blieb stehen und überlegte ein paar Sekunden unschlüssig, was er tun sollte. Dann kehrte er um und ging den Weg zurück. Im Kehrtmachen fiel ihm ein, daß das Mädchen erst vor drei Minuten an ihm vorbeigekommen war und er sie laufend vermutlich einholen konnte. Er konnte sich an ihre Fersen heften, bis sie eine verlassene Gegend erreicht hatten, und ihr dann mit einem Pflasterstein den Schädel einschlagen. Der Glasgegenstand in seiner Tasche war schwer genug dazu. Aber er ließ diese Idee sofort wieder fallen, denn schon der Gedanke an irgendeine körperliche Anstrengung war ihm unerträglich. Er brachte es einfach nicht fertig, zu laufen und zu einem Schlag auszuholen. Außerdem war sie jung und kräftig und würde sich verteidigen. Er dachte auch daran, noch zum Gemeinschaftshaus zu eilen und dort bis zur Sperrstunde zu bleiben, um sich wenigstens ein teilweises Alibi für den Abend zu verschaffen. Aber auch das war unmöglich. Eine tödliche Ermattung hatte sich seiner bemächtigt. Er wollte nichts weiter als nach Hause gehen, sich hinsetzen und ausruhen.
    Es war nach zweiundzwanzig Uhr, als er seine Wohnung erreichte. Um dreiundzwanzig Uhr dreißig würde der Lichtstrom von der Hauptleitung her abgeschaltet werden. Er ging in die Küche und goß fast eine ganze Teetasse voll Victory-Gin hinunter. Dann ging er zu dem Tisch in der Nische, setzte sich und zog das Tagebuch aus der Schublade. Aber er schlug es nicht sofort auf. Aus dem Televisor kreischte eine

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