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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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um auf die Toilette zu gehen.
    Da kam eine einzelne Gestalt vom anderen Ende des langen, hellerleuchteten Ganges auf ihn zu. Es war das dunkelhaarige Mädchen.
    Vier Tage waren seit dem Abend verstrichen, als sie ihm vor dem Altwarenladen begegnet war. Während sie näher kam, bemerkte er, daß sie den rechten Arm in einer Schlinge trug, die man aus der Entfernung nicht erkennen konnte, weil sie von der gleichen Farbe wie ihr Trainingsanzug war. Vermutlich hatte sie sich die Hand gequetscht bei der Bedienung eines der großen Kaleidoskope, in denen die Grobeinstellung der ersten Fassung von Romanen hergestellt wurde. Das war in der Literaturabteilung ein wohl ziemlich häufiger Arbeitsunfall.
    Sie waren vielleicht noch vier Meter voneinander entfernt, als das Mädchen stolperte und fast ihrer ganzen Länge nach hinfiel. Ein schriller Schmerzensschrei entrang sich ihrer Brust. Sie mußte gerade auf den verletzten Arm gefallen sein. Winston blieb stehen. Das Mädchen hatte sich auf den Knien aufgerichtet. Ihr Gesicht war milchweiß geworden, und der Mund hob sich in lebhafterem Rot als vorher von ihrer Blässe ab.
    Mit einem flehentlichen Ausdruck, der mehr nach Angst als nach Schmerz aussah, blickten ihre Augen in die seinen.
    Ein seltsames Gefühl regte sich in Winstons Herzen. Zu seinen Füßen lag ein Feind, der ihm nach dem Leben trachtete; zugleich aber auch ein Mensch, der von Schmerzen gequält wurde und sich vielleicht einen Knochen gebrochen hatte. Instinktiv war er herbeigeeilt, um ihr zu helfen. In dem Augenblick, als er sie auf den verbundenen Arm fallen sah, war ihm gewesen, als fühlte er den Schmerz am eigenen Leibe.
    »Haben Sie sich verletzt?« fragte er.
    »Es ist nichts. Nur mein Arm. Es wird gleich wieder gut sein.«
    Sie sprach, als stocke ihr das Herz. Jedenfalls war sie sehr bleich geworden.
    »Sie haben sich hoffentlich nichts gebrochen?«
    »Nein, mir fehlt nichts. Es tat einen Augenblick weh, das ist alles.«
    Sie streckte ihm ihre freie Hand entgegen, und er half ihr auf. Sie hatte wieder etwas Farbe bekommen und schien sich bedeutend besser zu fühlen.
    »Es ist nichts«, wiederholte sie kurz. »Ich verspürte nur einen Stich im Handgelenk. Danke, Genosse!«
    Und damit ging sie so unbeschwert in der gleichen Richtung weiter, als sei tatsächlich nichts geschehen.
    Der ganze Zwischenfall konnte keine halbe Minute gedauert haben. Seine Gefühle durch nichts zu verraten, war für jedermann zu einer Instinkthandlung geworden, und überdies hatten sie gerade vor einem Televisor gestanden, als die Sache passierte. Trotzdem war es Winston nicht leichtgefallen, einen flüchtigen Ausdruck der Überraschung zu unterdrücken, denn in den zwei oder drei Sekunden, in denen er ihr aufhalf, hatte das Mädchen ihm etwas in die Hand gedrückt. Es stand außer Frage, daß sie das absichtlich getan hatte. Es war ein kleiner und flacher Gegenstand. Als er die Toilette betrat, schob er ihn in seine Tasche und befühlte ihn mit den Fingerspitzen. Es war ein viereckig zusammengefaltetes Stückchen Papier.
    Während er vor dem Becken stand, gelang es ihm nach einigem Fingern, den Zettel auseinander zufalten.
    Offenbar stand eine Nachricht darauf. Einen Augenblick fühlte er sich versucht, ihn in eine der Kabinen mitzunehmen und auf der Stelle zu lesen. Doch das wäre eine unverzeihliche Torheit gewesen, wie er wohl wußte. Es gab kaum einen anderen Ort, an dem man so sicher sein konnte, dauernd durch den Televisor überwacht zu werden.
    Er ging an seinen Arbeitsplatz in seine Nische zurück, warf das Zettelchen nachlässig unter die anderen auf dem Schreibtisch liegenden Papiere, setzte sich die Brille auf und zog den Sprechschreiber zu sich heran.
    »Fünf Minuten«, sagte er zu sich selbst; »mindestens fünf Minuten.« Sein Herz klopfte erschreckend heftig in seiner Brust. Zum Glück war die Arbeit, mit der er gerade beschäftigt war, eine reine Routinesache, die Richtigstellung einer langen Zahlenliste, und erforderte keine angestrengte Aufmerksamkeit.
    Was immer auf dem Papier geschrieben stand, mußte eine Art politische Bedeutung haben. Soweit er es beurteilen konnte, gab es zwei Möglichkeiten. Die eine, weit wahrscheinlichere, bestand darin, daß das Mädchen, ganz wie er gefürchtet hatte, eine Agentin der Gedankenpolizei war. Er wußte zwar nicht, warum die Gedankenpolizei gerade diesen Weg wählen sollte, einem ihre Weisungen zugehen zu lassen, aber vielleicht hatte sie ihre Gründe dafür. Auf dem

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