Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
Vom Netzwerk:
erraten konnte, daß er vermutlich einmal als Briefbeschwerer gedacht war. Er wog sehr schwer in seiner Tasche, aber zum Glück bauschte er sie nicht sehr auf. Es war auffallend, sogar kompromittierend für ein Parteimitglied, dergleichen in seinem Besitz zu haben. Alles Alte – und damit alles Schöne – war immer ein wenig verdächtig. Der alte Mann war merklich liebenswürdiger geworden, nachdem er die vier Dollar bekommen hatte. Winston wurde klar, daß er sich auch mit drei oder sogar zwei zufriedengegeben hätte.
    »Oben ist noch ein anderes Zimmer, das Sie vielleicht gerne besichtigen möchten«, sagte er. »Es steht nicht viel drin. Nur ein paar Möbelstücke. Wenn wir hinaufgehen, wird eine Lampe als Beleuchtung genügen!«
    Er zündete eine andere Lampe an und ging mit gebeugtem Rücken voran die steile, ausgetretene Treppe hinauf, und weiter durch einen winzigen Flur in ein Zimmer, das keinen Ausblick auf die Straße, sondern auf einen gepflasterten Hof und einen Wald von Schornsteinen hatte. Winston bemerkte, daß die Möbel noch so aufgestellt waren, als wäre das Zimmer bewohnt. Ein Teppichstreifen lag auf dem Fußboden, ein paar Bilder hingen an den Wänden, und ein tiefer, durchgesessener Lehnstuhl war an den offenen Kamin gerückt. Eine altmodische Standuhr unter einem Glassturz und mit einem Zwölferzifferblatt tickte auf dem Kaminsims. Unter dem Fenster stand, fast ein Viertel des Zimmers einnehmend, ein riesiges Bett, auf dem noch die Matratzen lagen.
    »Wir wohnten hier, bis meine Frau starb«, sagte der alte Mann, halb um Entschuldigung bittend. »Jetzt verkaufe ich die Möbel eins nach dem anderen. Das hier ist ein prachtvolles Mahagonibett, oder es wäre jedenfalls prächtig, wenn man die Wanzen herausbekommen könnte. Aber Sie werden vermutlich finden, daß es zuviel Platz einnimmt.«
    Er hielt die Lampe hoch, um den ganzen Raum zu beleuchten, und in dem warmen, gedämpften Licht sah das Zimmer merkwürdig einladend aus. Durch Winstons Kopf huschte der Gedanke, daß es vermutlich ganz leicht sein würde, das Zimmer für ein paar Dollar in der Woche zu mieten, wenn man nur die Gefahr auf sich zu nehmen wagte. Es war ein toller, unmöglicher Einfall, den er gleich darauf wieder fallen ließ; aber das Zimmer hatte in ihm so etwas wie Heimweh, eine Art alter Erinnerung, geweckt. Es kam ihm vor, als wüßte er genau, wie man sich fühlte, wenn man in einem solchen Zimmer im Lehnstuhl neben einem offenen Feuer saß, mit den Füßen gegen das Kamingitter und einem Teekessel auf dem Kaminbord: ganz allein, ganz sicher, ohne jemand, der einen beobachten, ohne eine Stimme, die einen verfolgen konnte kein anderer Laut als das Summen des Kessels und das freundliche Ticken der Uhr.
    »Und keinen Televisor«, murmelte er unwillkürlich.
    »Oh«, sagte der alte Mann, »ich habe nie eins von diesen Dingen besessen. Zu teuer. Ich habe offenbar auch nie ein Bedürfnis danach verspürt. Dort drüben in der Ecke sehen Sie ein hübsches Klapptischchen. Sie müßten allerdings neue Scharniere anbringen lassen, wenn Sie es aufgeklappt benützen wollen.«
    In der anderen Ecke stand ein kleines Bücherregal, auf das Winston bereits losgesteuert war. Es enthielt nichts als Schund. Das Auskämmen und Vernichten der Bücher war in den Proles-Vierteln mit der gleichen Gründlichkeit wie in allen anderen besorgt worden. Es war höchst unwahrscheinlich, daß es irgendwo in Ozeanien noch ein Exemplar eines vor 1960 gedruckten Buches gab. Noch immer die Lampe in den Händen, stand der alte Mann vor einem Bild in einem Rosenholzrahmen, das auf der anderen Seite des Kamins hing, dem Bett gegenüber.
    »Falls Sie zufällig Interesse an alten Stichen haben sollten«, fing er vorsichtig an.
    Winston trat näher, um das Bild genauer zu betrachten. Es war der Stahlstich eines ovalen Gebäudes mit rechtwinkeligen Fenstern und einem kleinen Turm in der Mitte. Ein Eisengitter lief um das ganze Gebäude, und im Hintergrund war offenbar eine Art Standbild. Winston betrachtete es einige Augenblicke. Es kam ihm irgendwie bekannt vor, wenn er sich auch an das Standbild nicht erinnern konnte.
    »Der Rahmen ist an der Wand befestigt«, sagte der alte Mann, »aber ich kann ihn losschrauben.«
    »Ich kenne das Gebäude«, sagte Winston schließlich. »Es ist heute eine Ruine. Es steht mitten auf der Straße vor dem Justizpalast.«
    »Stimmt. Beim Großen Gerichtshof. Es wurde zerbombt im Jahre – ach, vor vielen Jahren. Es ist einmal eine

Weitere Kostenlose Bücher