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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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ihr Erinnerungsvermögen soweit zu wecken, bis sie sich undeutlich entsann, daß einmal Ostasien und nicht Eurasien der Feind gewesen war. Aber diese Feststellung kam ihr noch immer unwichtig vor. »Was liegt schon daran?« sagte sie ungeduldig. »Immer ist es ein blöder Krieg nach dem anderen, und man weiß, daß die Berichte sowieso alle erlogen sind.«
    Manchmal sprach er mit ihr über die Registraturabteilung und die schamlosen Fälschungen, die er dort beging. Solche Dinge schienen sie nicht zu entsetzen. Sie fühlte bei der Vorstellung, wie Lügen zu Wahrheit wurden, nicht den Abgrund, der sich damit vor ihren Füßen auftat. Er erzählte ihr die Geschichte von Jones, Aaronson und Rutherford und dem bedeutungsvollen Zeitungsausschnitt, den er in Händen gehalten hatte.
    Sie machte keinen großen Eindruck auf sie. Zuerst entging ihr sogar der springende Punkt der ganzen Geschichte.
    »Waren es Freunde von dir?« fragte sie.
    »Nein, ich habe sie nie gekannt. Sie waren Mitglieder der Inneren Partei. Übrigens viel ältere Männer als ich. Sie gehörten noch der alten Zeit an, der Zeit vor der Revolution. Ich kannte sie kaum vom Sehen.«
    »Warum machst du dir dann Gedanken darüber? Die ganze Zeit werden doch Menschen umgebracht, oder nicht?«
    Er versuchte, es ihr begreiflich zu machen. »Hier handelt es sich um einen besonderen Fall. Es handelt sich nicht nur darum, daß irgendeiner umgebracht wurde. Bist du dir bewußt, daß die Vergangenheit, vom gestrigen Tage angefangen, tatsächlich ausgelöscht ist? Wenn sie noch irgendwo fortbesteht, so nur in ein paar leblosen Gegenständen, die den Mund nicht auftun können, wie dieses Stück Glas dort. Buchstäblich wissen wir bereits so gut wie nichts von der Revolution und den Jahren vor der Revolution. Jede Aufzeichnung wurde vernichtet oder verfälscht, jedes Buch überholt, jedes Bild übermalt, jedes Denkmal, jede Straße und jedes Gebäude umbenannt, jedes Datum geändert. Und dieses Verfahren geht von Tag zu Tag und von Minute zu Minute weiter. Die geschichtliche Entwicklung hat aufgehört. Es gibt nur noch eine unabsehbare Gegenwart, in der die Partei immer recht behält. Freilich weiß ich, daß die Vergangenheit gefälscht ist, aber ich könnte es niemals beweisen, sogar in den Fällen, wo ich die Fälschung selbst vorgenommen habe. Nachdem die Sache einmal getan ist, bleibt nie ein Beweisstück zurück. Der einzige Beweis lebt in meinem Geist, und ich habe nicht die geringste Gewißheit, daß auch nur ein einziger Mensch auf der Welt die gleiche Erinnerung hat. Nur in diesem einen Fall habe ich einen wirklichen handgreiflichen Beweis nach dem Geschehnis besessen, und zwar zwei Jahre danach.«
    »Und wozu war das gut?«
    »Zu nichts, denn ich warf ihn ein paar Minuten später fort. Passierte es mir heut, würde ich ihn aufbewahren.«
    »Ich nicht«, meinte Julia. »Ich bin zwar durchaus bereit, ein Risiko einzugehen, aber nur wenn es sich lohnt, nicht für einen Ausschnitt aus einer alten Zeitung. Was hättest du schon damit anfangen können, selbst wenn du es behalten hättest?«
    »Vielleicht nicht viel. Aber es war ein Beweisstück. Es hätte vielleicht da und dort einige Zweifel geweckt, falls ich gewagt hätte, es jemandem zu zeigen. Wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, daß wir zu unseren Lebzeiten etwas ändern können, so kann man sich doch denken, daß da und dort kleine Widerstandsgruppen entstehen – kleine Gruppen von ein paar Menschen, die sich zusammenschließen und die dann langsam größer werden und sogar ein paar Aufzeichnungen hinterlassen, so daß die nächste Generation da weitermachen kann, wo wir aufgehört haben.«
    »Die nächste Generation geht mich nichts an, mein Lieber. Mich interessieren nur wir .«
    »Du bist eine Revolutionärin von der Taille abwärts«, sagte Winston.
    Sie fand das ungemein witzig und warf ihm entzückt die Arme um den Nacken.
    Die Spitzfindigkeiten der Parteidoktrin interessierten sie nicht im geringsten. Wenn er von den Grundgesetzen des Engsoz , dem Zwiedenken, der Wandelbarkeit der Vergangenheit, der Leugnung einer objektiven Wirklichkeit sprach und Neusprachworte zu verwenden begann, wurde sie gelangweilt und verwirrt und sagte, sie kümmere sich nie um solche Dinge. Man wisse doch, daß das alles Unsinn sei, warum sich also den Kopf damit beschweren? Sie wußte, wann man »Hurra« und wann man »Nieder« schreien mußte, und das sei alles, was man brauche. Wenn er darauf bestand, weiter über

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