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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Wohnung abholen? Warten Sie, ich gebe Ihnen meine Adresse.«
    Sie standen vor einem Televisor. Etwas zerstreut tastete O'Brien zwei seiner Taschen ab und zog dann ein kleines ledergebundenes Notizbuch und einen goldenen Tintenstift hervor. Unmittelbar unter dem Televisor, so daß jeder Beobachter am anderen Ende des Apparates sehen konnte, was er schrieb, kritzelte er eine Adresse, riß das Blatt heraus und überreichte es Winston.
    »Ich bin an den Abenden gewöhnlich zu Hause«, sagte er. »Wenn nicht, gibt Ihnen mein Diener das Wörterbuch.«
    Er war gegangen, während Winston stehen blieb, das Blatt Papier in den Händen, das diesmal nicht versteckt zu werden brauchte. Trotzdem prägte er sich sorgfältig das darauf Geschriebene ein und warf es ein paar Stunden später mit lauter anderen Papieren in das Gedächtnis-Loch .
    Sie hatten sich allerhöchstens zwei Minuten miteinander unterhalten. Es gab nur eine Interpretation für diese Begegnung. Sie war in die Wege geleitet worden, um Winston die Adresse O'Briens wissen zu lassen.
    Das war notwendig, denn nur durch direktes Befragen konnte man herausfinden, wo jemand wohnte. Es gab keine Adreßbücher irgendwelcher Art. »Sollten Sie mich einmal sprechen wollen, so bin ich dort zu finden«, hatte O'Brien zu ihm gesagt. Vielleicht war sogar irgendwo in dem Wörterbuch eine Mitteilung versteckt. Aber eines war jedenfalls gewiß. Es gab die Verschwörung, von der er geträumt hatte, und er war mit ihren Ausläufern in Berührung gekommen.
    Er wußte, daß er früher oder später O'Briens Aufforderung nachkommen würde. Jedenfalls hatte eine vor Jahren begonnene Entwicklung nunmehr Gestalt angenommen. Der erste Schritt war ein geheimer, ungewollter Gedanke gewesen, der zweite der Beginn des Tagebuchs. Er war von Gedanken zu Worten geschritten, und jetzt von Worten zu Taten. Die letzte Episode würde sich im Liebesministerium abspielen.
    Er hatte sich damit abgefunden. Das Ende lag schon im Anfang beschlossen. Aber es war etwas Erschreckendes, oder, genauer gesagt, es war wie ein Vorgeschmack des Todes – so als wäre man schon etwas weniger lebendig. Sogar während er mit O'Brien sprach, hatte seinen Körper ein eisiger Schauer überrieselt, als ihm die Bedeutung der Worte zum Bewußtsein gekommen war. Er hatte das Gefühl, in ein dumpfes Grab hinabzusteigen; und es wurde ihm dadurch nicht viel leichter gemacht, daß er schon immer gewußt hatte, das Grab sei da und warte auf ihn.

Siebentes Kapitel
    Winston war mit tränennassen Augen aufgewacht. Julia schmiegte sich schlaftrunken an ihn und murmelte etwas wie: »Was ist los?«
    »Ich habe geträumt . . .«, begann er und stockte. Es war zu verworren, um es in Worte zu kleiden. Da war einerseits der eigentliche Traum, damit aber war eine Erinnerung verknüpft, die ihm in den paar Sekunden nach dem Erwachen nicht aus dem Kopf gehen wollte.
    Er legte sich mit geschlossenen Augen zurück, noch immer in der Atmosphäre des Traumes befangen.
    Es war ein weitläufiger, leuchtender Traum, in dem sein ganzes Leben vor ihm ausgebreitet zu sein schien, wie eine Landschaft an einem Sommerabend nach dem Regen. Alles hatte sich im Innern des gläsernen Briefbeschwerers abgespielt, aber die Oberfläche des Glases war die Himmelskuppel, und innerhalb der Kuppel war alles von klarem sanften Licht durchflutet, in dem man in endlose Fernen blicken konnte. Im Traum war auch die Armbewegung vorgekommen – ja, sie spielte in gewissem Sinne die Hauptrolle darin – , die seine Mutter und dreißig Jahre später die jüdische Frau in der Wochenschau gemacht hatte, die Armbewegung, mit der sie den kleinen Jungen vor den Kugeln zu schützen versuchte, ehe die Helikopter sie beide in Fetzen schossen.
    »Weißt du«, sagte er, »daß ich bis zu diesem Augenblick geglaubt habe, meine Mutter ermordet zu haben?«
    »Warum hast du sie ermordet?« sagte Julia, noch aus dem Schlaf heraus.
    »Ich habe sie nicht ermordet. Nicht wirklich.«
    In dem Traum hatte er sich an das flüchtige Bild seiner Mutter erinnert, wie er sie zuletzt gesehen hatte, und während der paar Augenblicke des Erwachens waren ihm alle die kleinen damit zusammenhängenden Begleitumstände wieder eingefallen. Es war eine Erinnerung, die er viele Jahre sorgfältig aus seinem Bewußtsein verbannt haben mußte. Er konnte das Datum nicht genau bestimmen, aber er mußte damals schon zehn, zwölf Jahre alt gewesen sein.
    Sein Vater war zu einem früheren Zeitpunkt verschwunden; wie

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