1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
Stunden treffen konnten.
Wichtig war allein, daß es das Zimmer über dem Altwarenladen überhaupt gab. Zu wissen, daß es unversehrt auf sie wartete, war fast so gut, wie sich darin aufzuhalten. Das Zimmer war eine Welt für sich, ein Schlupfwinkel der Vergangenheit, in dem sich längst ausgestorbene Tiere tummeln konnten. Mr.
Charrington, dachte Winston, war auch so ein ausgestorbenes Tier. Bevor er ins obere Stockwerk hinaufging, blieb Winston gewöhnlich stehen, um ein paar Minuten mit Mr. Charrington zu plaudern. Der alte Mann schien selten oder nie aus dem Haus zu gehen und andererseits so gut wie keine Kunden zu haben. Er führte ein gespenstisches Leben zwischen dem winzigen, dunklen Laden und einer noch winzigeren, nach dem Hof hinaus gelegenen Küche, wo er seine Mahlzeiten zubereitete und wo es unter anderem ein unglaublich altes Grammophon mit einem riesigen Schalltrichter gab. Er schien sich über die Gelegenheit zu einer Unterhaltung zu freuen. Wenn er zwischen seinen wertlosen Trödlerwaren mit seiner langen Nase, der dicken Brille und den gebeugten Schultern in seiner Samtjacke umherging, sah er eher wie ein Sammler als wie ein Händler aus. Mit einer etwas matten Leidenschaft fingerte er an diesem oder jenem Stück seines alten Krimskrams herum – einem Flaschenstöpsel aus Porzellan, dem bemalten Deckel einer zerbrochenen Schnupftabaksdose, einem unechten Medaillon mit der Haarlocke eines längst verstorbenen Kindes –, ohne Winston jemals zum Kauf, sondern nur zur Bewunderung aufzufordern. Wenn man mit ihm sprach, war es, als lausche man dem Zirpen einer ausgeleierten Spieldose. Er hatte aus den Winkeln seines Gedächtnisses noch ein paar Zeilen aus vergessenen Reimen hervorgeholt. »Mir kam nur eben der Gedanke, es könnte Sie vielleicht interessieren«, pflegte er mit einem um Verzeihung heischenden, kurzen Lachen zu sagen, wenn er eine neue Verszeile aufsagte. Aber er konnte sich nie an mehr als an ein Zeilenpaar mit einem Reim erinnern.
Winston und Julia wußten – und in gewisser Weise verließ sie dieses Bewußtsein nie –, daß ihr Treiben hier nicht lange dauern konnte. Es gab Zeiten, in denen die über ihnen hängende Todesdrohung so greifbar schien wie das Bett, auf dem sie lagen, dann klammerten sie sich mit einer verzweifelten Sinnlichkeit aneinander, wie eine verdammte Seele nach dem letzten Strohhalm der Lust greift, wenn in fünf Minuten ihr letztes Stündlein schlägt. Aber es gab auch Zeiten, in denen sie sich nicht nur in Sicherheit wiegten, sondern sich auch ganz der Illusion hingaben, daß ihr Zustand von Dauer sei. Solange sie sich in diesem Zimmer aufhielten, konnte ihnen – so fühlten beide – nichts Schlimmes widerfahren. Der Anmarschweg war zwar schwierig und gefährlich, aber das Zimmer selbst war eine Freistatt. Es war für Winston, als ob er in das Innere seines Briefbeschwerers geblickt hätte, mit dem Gefühl, es sei möglich, in diese gläserne Welt einzudringen und dann, wenn man erst einmal darin war, der Zeit Einhalt zu gebieten. Oft überließen sie sich Wunschträumen von einer Flucht. Ihr Glück würde ewig währen, und sie würden ganz einfach für den Rest des ihnen zugemessenen Lebens einander weiter lieben wie bisher. Oder Katherine würde sterben und ihnen würde durch vorsichtiges Manövrieren gelingen, sich zu heiraten. Oder sie würden gemeinsam Selbstmord begehen; oder von der Bildfläche verschwinden, ihr Äußeres bis zur Unkenntlichkeit verändern, im Dialekt der Proles sprechen lernen, in einer Fabrik arbeiten und ihr Leben unentdeckt in irgendeiner Hintergasse zu Ende leben. All das war, wie sie sehr wohl wußten, barer Unsinn. In Wirklichkeit gab es kein Entrinnen. Sogar den einzig durchführbaren Plan, nämlich Selbstmord zu verüben, beabsichtigten sie nicht wirklich auszuführen. Von Tag zu Tag und von Woche zu Woche weiterzumachen, eine Gegenwart zu genießen, die keine Zukunft hatte, schien ein unüberwindlicher Instinkt zu fordern, genauso wie die Lungen eines Menschen immer weiter atmen, solange noch Luft da ist.
Manchmal sprachen sie davon, sich offen gegen die Partei aufzulehnen, ohne jedoch eine Ahnung zu haben, wie der erste Schritt dabei aussehen sollte. Sogar wenn es die legendäre »Brüderschaft« in Wirklichkeit gab, blieb doch die Schwierigkeit, den Weg zu ihr zu finden. Er erzählte ihr von dem seltsamen Einverständnis, das zwischen ihm und O'Brien herrschte oder vielmehr zu herrschen schien, und von dem Verlangen,
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