1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
viel früher, konnte er sich nicht mehr erinnern. Deutlicher entsann er sich der ungeordneten, unsicheren Lebensumstände der damaligen Zeit: der immer wiederkehrenden Paniken bei Luftangriffen und der Flucht in die Untergrundbahnhöfe, der überall herumliegenden Schutt- und Trümmerhaufen, der an den Straßenecken angeschlagenen unverständlichen Proklamationen, der Umzüge von Jugendlichen, die alle mit gleichfarbigen Hemden bekleidet waren, der riesigen Menschenschlangen vor den Bäckerläden, des abgehackten Knatterns der Maschinengewehre in der Ferne – vor allem aber der Tatsache, daß es niemals genug zu essen gab. Er entsann sich der langen Nachmittage, die er mit anderen Jungen damit verbracht hatte, die Mülltonnen und Abfallhalden zu durchsuchen, um Kohlstrünke, Kartoffelschalen und manchmal sogar vertrocknete Brotkrusten herauszuklauben, von denen sie sorgfältig die Kohlenasche abschabten. Und auch, wie sie auf das Vorbeikommen von Lastautos gewartet hatten, die gewisse Fernfahrten machten und von denen man wußte, daß sie Viehfutter geladen hatten; manchmal fielen, wenn sie an schlechten Stellen über die Straßenlöcher holperten, ein paar Ölkuchenbrocken herunter.
Als sein Vater verschwand, war seiner Mutter weder Erstaunen noch Kummer anzumerken, es ging lediglich eine plötzliche Verwandlung mit ihr vor. Sie schien völlig erloschen. Sogar für Winston war es offensichtlich, daß sie auf ein Ereignis gefaßt war, das nach ihrer Meinung unausweichlich kommen mußte.
Sie tat alles Notwendige – kochte, wusch, nähte, machte die Betten, fegte den Fußboden, staubte den Kaminsims ab – immer sehr langsam und unter Vermeidung jeder überflüssigen Bewegung, wie eine zum Leben erwachte Gliederpuppe. Ihr großer wohlgestalteter Körper schien ganz natürlich in Ruhestellung zu fallen. Stundenlang saß sie beinahe regungslos auf dem Bett und streichelte seine kleine Schwester, ein winziges, kränkliches, sehr stilles Kind von zwei oder drei Jahren, mit einem vor Magerkeit affenähnlichen Gesicht. Nur manchmal schloß sie Winston in ihre Arme und preßte ihn lange Zeit wortlos an sich. Er merkte trotz seiner Jugend und seiner Selbstsucht, daß dies etwas mit dem nie ausgesprochenen Ereignis zu tun hatte, das früher oder später eintreten mußte.
Er erinnerte sich an das Zimmer, in dem sie wohnten, einen dunklen, dumpfigen Raum, der zur Hälfte von einem Bett mit einer hellen Steppdecke ausgefüllt schien. In der Wandnische war ein Gaskocher und darüber ein Brett, auf dem Nahrungsmittel lagen, und draußen auf dem Flur gab es ein Ausgußbecken aus braunem Steingut, das mehrere Mieter gemeinsam benützten. Er sah noch den statuenhaften Körper seiner Mutter vor sich, wie er sich über den Kocher beugte, um etwas in einem Kochtopf umzurühren. Vor allem erinnerte er sich an seinen ständigen Hunger und die erbitterten selbstsüchtigen Kämpfe bei den Mahlzeiten. Er pflegte seine Mutter immer wieder vorwurfsvoll zu fragen, warum es denn nicht mehr zu essen gab, er schrie sie an (er erinnerte sich sogar noch an den Klang seiner Stimme, die vorzeitig zu mutieren begann und sich manchmal merkwürdig überschlug) oder versuchte es mit einem weinerlichen Tonfall, um mehr als den ihm zustehenden Anteil zu erhalten. Seine Mutter war gerne bereit, ihm mehr als seinen Anteil zu geben. Sie fand es selbstverständlich, daß »der Junge« die größte Portion bekommen sollte; aber soviel sie ihm auch gab, er verlangte unabänderlich nach mehr. Bei jeder Mahlzeit flehte sie ihn an, nicht egoistisch zu sein und daran zu denken, daß sein Schwesterchen krank sei und auch etwas zu essen brauche, aber es half nichts. Er schrie zornig, wenn sie ihm nichts mehr austeilte, er versuchte, ihr die Schüssel und den Löffel aus der Hand zu reißen, er holte sich einzelne Bissen vom Teller seiner Schwester. Er wußte, daß er die beiden anderen damit zum Verhungern verurteilte, aber es war nichts dagegen zu machen; er hatte sogar das Gefühl, er habe ein Recht dazu. Der nagende Hunger in seiner Magengrube schien ihm eine hinreichende Rechtfertigung. Und wenn seine Mutter nicht aufpaßte, stahl er zwischen den Mahlzeiten von den armseligen Lebensmittelvorräten auf dem Wandbrett.
Eines Tages wurde eine Schokoladeration verteilt. Seit Wochen oder Monaten hatte es keine Zuteilung mehr gegeben. Sie erhielten zu dritt ein Täfelchen im Gewicht von zwei Unzen (damals rechnete man noch nach Unzen), das offensichtlich in drei
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