1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
das er manchmal verspürte, ganz einfach vor O'Brien hinzutreten, ihm zu gestehen, daß er ein Feind der Partei sei, und ihn um seine Hilfe zu bitten. Merkwürdigerweise kam das Julia nicht als ein vorschneller Schritt vor. Sie pflegte die Menschen nach ihrem Gesicht zu beurteilen, und es schien ihr natürlich, daß Winston auf Grund eines einzigen Blickwechsels O'Brien für vertrauenswürdig hielt.
Außerdem nahm sie als sicher an, daß jeder – oder doch fast jeder – die Partei insgeheim haßte und gegen die Gesetze verstieß, sobald er glaubte, das ungestraft tun zu können. Aber sie bezweifelte entschieden, daß es eine weitverzweigte, organisierte Gegenbewegung gab oder geben konnte. Die Geschichten von Goldstein und seiner Untergrundbewegung, meinte sie, wären völliger Unsinn, den die Partei zu ihren Zwecken erfunden hatte und von dem man nur so tun mußte, als glaubte man ihn. Unzählige Male hatte sie bei Parteiversammlungen und spontanen Kundgebungen mit vollem Stimmenaufwand die Hinrichtung von Menschen gefordert, deren Namen sie nie zu vor gehört hatte und an deren angebliche Verbrechen sie nicht im entferntesten glaubte. Wenn Schauprozesse stattfanden, hatte sie ihren Platz unter der Abordnung der Jugendliga eingenommen, die von morgens bis abends vor dem Gerichtsgebäude Stellung bezog und in Abständen in den Ruf ausbrach: »Tod den Verrätern!« Während der Zwei-Minuten-Haß-Sendung tat sie sich immer vor allen anderen darin hervor, Verwünschungen gegen Goldstein auszustoßen. Trotzdem hatte sie nur ganz unklare Vorstellungen davon, wer Goldstein überhaupt war und welche Doktrin er angeblich vertrat. Sie war nach der Revolution aufgewachsen und zu jung, um sich noch an die ideologischen Kämpfe der fünfziger und sechziger Jahre zu erinnern. So etwas wie eine unabhängige politische Bewegung ging über ihr Vorstellungsvermögen hinaus: Die Partei blieb ein für allemal unbesieglich. Sie würde immer da sein, und alles würde immer so bleiben, wie es war. Man konnte sich nur durch geheimen Ungehorsam dagegen auflehnen oder höchstens durch einzelne Terrorakte – indem man jemand umbrachte oder etwas in die Luft sprengte.
In mancher Beziehung sah sie viel klarer als Winston und war weit weniger für Parteipropaganda empfänglich. Als er einmal zufällig in irgendeinem Zusammenhang die Rede auf den Krieg gegen Eurasien brachte, verblüffte sie ihn, indem sie ganz beiläufig sagte, ihrer Meinung nach gebe es diesen Krieg überhaupt nicht. Die täglich in London einschlagenden Raketenbomben würden vermutlich von der Regierung Ozeaniens selbst abgefeuert, »nur um die Leute in Furcht und Schrecken zu halten«. Das war ein Gedanke, der ihm buchstäblich noch nie in den Sinn gekommen war. Sie weckte auch so etwas wie Neid in ihm durch ihre Bemerkung, sie habe alle Mühe, während der Zwei-Minuten-Haß-Sendung nicht lachend herauszuplatzen. Sie stellte aber die Parteidoktrin nur in Frage, wenn sie irgendwie ihr eigenes Leben berührte. Oft nahm sie die amtliche Phantasiedarstellung einfach deshalb bereitwillig hin, weil ihr der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge ganz unwichtig schien. Sie glaubte zum Beispiel, wie man es ihr in der Schule beigebracht hatte, daß die Partei das Flugzeug erfunden habe. (Während seiner eigenen Schulzeit Ende der fünfziger Jahre, erinnerte sich Winston, hatte die Partei nur Anspruch auf die Erfindung des Helikopters erhoben; eine Generation später würde sie auch noch die Dampfmaschine als ihre Erfindung beanspruchen.) Und als er ihr erzählte, es habe schon vor seiner Geburt und lange vor der Revolution Flugzeuge gegeben, war ihr diese Tatsache völlig uninteressant. Was lag im Grunde schon daran, wer das Flugzeug erfunden hatte? Fast noch größer war die Enttäuschung für ihn, als er auf Grund einer zufälligen Bemerkung feststellte, daß sie sich nicht erinnerte, daß Ozeanien vor vier Jahren Krieg mit Ostasien und Frieden mit Eurasien gehabt hatte. Sie betrachtete zwar den ganzen Krieg als fingiert, hatte aber offenbar überhaupt nicht bemerkt, daß der Name des Feindes sich geändert hatte. »Ich dachte, wir hätten immer mit Eurasien Krieg gehabt«, sagte sie leichthin. Es erschreckte ihn ein wenig. Die Erfindung des Flugzeugs datierte lange vor ihrer Geburt, aber die Verlagerung des Krieges hatte erst vor vier Jahren stattgefunden, geraume Zeit nachdem sie erwachsen war. Er rechnete ihr das etwa eine Viertelstunde lang vor. Zum Schluß gelang es ihm,
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