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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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wahr. Sie haben keine Macht über dein Inneres. Wenn du fühlen kannst, daß es sich lohnt, ein Mensch zu bleiben, sogar wenn damit praktisch nichts erreicht wird, hast du ihnen doch ein Schnippchen geschlagen.«
    Er dachte an den Televisor mit seinem nimmer ruhenden Ohr. Sie konnten einen Tag und Nacht bespitzeln, aber wenn man auf seiner Hut war, konnte man sie überlisten. Bei all ihrer Schlauheit hatten sie doch nicht das Geheimnis gelöst, die Gedanken eines anderen aufzuspüren. Vielleicht war es anders, wenn man ihnen tatsächlich in die Hände gefallen war. Man wußte nicht, was innerhalb des Liebesministeriums vor sich ging, aber man konnte es erraten: Folterungen, Drohungen, hochempfindliche Apparate, um die Reaktion der Nerven zu registrieren, langsames Mürbemachen durch Schlafentzug, Einzelhaft und Dauerverhöre. Tatsachen jedenfalls konnte man nicht geheim halten. Sie konnten durch Nachforschungen festgestellt, konnten durch Foltern aus einem herausgepreßt werden. Wenn es aber darum ging, nicht etwa am lieben, sondern ein Mensch zu bleiben, welchen Unterschied machte das dann letzten Endes aus? Sie konnten die Gefühle eines Menschen nicht ändern; ja, man konnte sie nicht einmal selbst ändern, sogar wenn man es wollte. Sie konnten bis zur letzten Einzelheit alles aufdecken, was man getan, gesagt oder gedacht hatte. Aber die innerste Kammer des Herzens, deren Regungen sogar für einen selbst ein Geheimnis waren, blieb unbezwinglich.

Achtes Kapitel
    Sie hatten es getan, sie hatten es endlich getan! Das Zimmer, in dem sie standen, war länglich und sanft beleuchtet. Der Televisor war zu einem leisen Gemurmel gedämpft; die Üppigkeit des dunkelblauen Teppichs erweckte in einem den Eindruck, als trete man auf Samt. Am anderen Ende des Raumes saß O'Brien an einem Tisch unter einer grün abgeschirmten Lampe, mit einer Menge Papiere zu beiden Seiten vor sich. Er hatte nicht einmal aufgeblickt, als der Diener Julia und Winston hereinführte.
    Winstons Herz klopfte so heftig, daß er zweifelte, ob er würde sprechen können. Sie hatten es getan, sie hatten es endlich getan – war alles, was er denken konnte. Es war ein waghalsiges Unternehmen gewesen, auch nur herzukommen, und reiner Wahnsinn, gemeinsam zu kommen, wenn sie auch getrennte Wege eingeschlagen und sich erst vor O'Briens Haustür getroffen hatten. Aber allein schon an einen solchen Ort zu gehen, erforderte den Mut der Verzweiflung. Nur bei höchst seltenen Gelegenheiten konnte man einen Blick in die Wohnungen der Inneren-Partei-Mitglieder werfen oder auch nur einen Fuß in das Stadtviertel setzen, in dem sie wohnten. Die ganze Atmosphäre des riesigen Wohnblocks, die Pracht und die Ausmaße von allem, die ungewohnten Gerüche nach gutem Essen und gutem Tabak, die geräuschlosen und unglaublich rasch auf und ab gleitenden Aufzüge – alles das war einschüchternd. Obwohl er einen triftigen Vorwand für sein Kommen hatte, wurde er bei jedem Schritt von der Furcht verfolgt, ein schwarz uniformierter Wachposten könnte plötzlich um die Ecke biegen, seinen Ausweis verlangen und ihn hinausweisen. O'Briens Bedienter hatte jedoch die beiden ohne weitere Umstände hereingelassen. Er war ein kleiner, dunkelhaariger Mann in weißer Jacke, mit einem rautenförmigen, vollkommen ausdruckslosen Gesicht, das einem Chinesen hätte gehören können. Der Korridor, durch den er sie führte, war mit einem weichen Läufer belegt, die Wände waren cremefarben tapeziert und weiß getäfelt, alles glänzte vor makelloser Sauberkeit. Auch das war einschüchternd. Winston konnte sich nicht erinnern, jemals einen Flur gesehen zu haben, dessen Wände nicht durch die Berührung menschlicher Körper verschmutzt waren.
    O'Brien hielt einen Zettel in Händen und schien ihn aufmerksam zu studieren. Sein massiges Gesicht, das heruntergebeugt war, so daß man die Nasenlinie nicht sehen konnte, sah zugleich furchteinflößend und klug aus. Vielleicht zwanzig Sekunden lang saß er unbeweglich da. Dann zog er den Sprechschreiber zu sich heran und machte in dem hybriden Jargon der Ministerien eine Durchsage:
    »Punkt eins Komma fünf Komma sieben vollweise gebilligt Stop Vorschlag von Punkt sechs doppelplus lächerlich betreffs Denkverbrechen streicht Stop unsofort plusvoll Unterlagen abwartweise Maschinerie oben Stop Ende.«
    Er erhob sich bedächtig von seinem Stuhl und kam über den lautlosen Teppich auf sie zu. Ein wenig von der Beamtenatmosphäre schien mit den Neusprachworten

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