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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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noch ihren eigenen verhindern. Aber ihr schien es das Natürliche, so zu handeln. Die Flüchtlingsfrau in dem Boot hatte auch den kleinen Jungen mit ihren Armen gegen den Kugelregen abgeschirmt, was nicht mehr ausrichten konnte als ein Blatt Papier. Die Partei aber suchte einem mit teuflischer Gewalt einzureden, bloße Regungen des Gefühls seien ohne Bedeutung, während sie einen gleichzeitig aller, materiellen Freuden des Lebens beraubte. War man erst einmal in ihren Klauen, so bestand buchstäblich kein Unterschied mehr, ob man etwas fühlte oder nicht fühlte, was man tat oder was man unterließ. Was auch geschehen war, eines Tages verschwand man von der Bildfläche, und weder von dem einzelnen Menschen noch von dem, was er getan, war jemals wieder etwas zu hören. Man wurde einfach aus der Geschichte gestrichen. Zwei Generationen früher wäre das dem Menschen nicht so ungeheuer wichtig vorgekommen, denn damals versuchten sie nicht, die Geschichte zu ändern. Sie ließen sich durch selbstauferlegte Sittengesetze lenken, die von ihnen nicht in Frage gestellt wurden. Wichtig waren nur menschliche Beziehungen: eine vollkommen zweckfreie Tat, eine Umarmung, eine Träne, ein zu einem Sterbenden gesprochenes Trostwort konnten an sich wertvoll sein. Die Proles, kam ihm plötzlich zum Bewußtsein, hatten sich diesen Zustand bewahrt. Sie waren nicht einer Partei oder einem Land oder einer Idee ergeben, sondern sich selber treu. Zum erstenmal in seinem Leben verachtete er die Proles nicht, dachte an sie nicht lediglich als an eine dumpfe Kraft, die eines Tages erwachen und die Welt erneuern würde. Die Proles waren menschlich geblieben. Sie waren nicht innerlich verhärtet. Sie hatten sich die primitiven Gefühle erhalten, die er mit bewußtem Bemühen wiedererlernen mußte. Und bei diesen Überlegungen fiel ihm ohne erkennbaren Zusammenhang ein, wie er vor ein paar Wochen eine abgerissene Hand auf dem Pflaster liegen gesehen und sie mit einem Fußtritt in den Rinnstein geschleudert hatte, als wäre sie ein Kohlstrunk gewesen.
    »Die Proles sind Menschen«, sagte er laut. »Wir sind keine Menschen.«
    »Warum nicht?« fragte Julia, die wieder aufgewacht war.
    Er dachte eine Weile nach. »Ist dir je bewußt geworden«, sagte er, »daß es für uns das beste wäre, einfach hier wegzugehen, bevor es zu spät ist, und einander nie mehr wiederzusehen?«
    »Ja, Lieber, ich habe manchmal daran gedacht. Aber trotzdem tue ich es nicht.«
    »Wir hatten bis jetzt Glück, aber es kann nicht mehr lange so weitergehen. Du bist jung. Du siehst vorschriftsmäßig und harmlos aus. Wenn du Menschen wie mir aus dem Wege gehst, bleibst du vielleicht noch fünfzig Jahre am Leben.«
    »Nein. Ich habe mir alles überlegt. Was du tust, das tue ich auch. Und sieh bitte nicht zu schwarz. Ich bin recht geschickt darin, am Leben zu bleiben.«
    »Wir können vielleicht noch weitere sechs Monate – vielleicht noch ein Jahr – beisammen bleiben, man kann es nicht wissen. Zum Schluß werden wir mit Gewißheit getrennt. Bist du dir bewußt, wie schrecklich allein wir sein werden? Wenn sie uns erst einmal in den Klauen haben, gibt es nichts, buchstäblich nichts, was wir füreinander tun könnten. Wenn ich ein Geständnis ablege, erschießen sie dich, und wenn ich mich zu gestehen weigere, erschießen sie dich genauso. Nichts, was ich mir zu tun oder zu sagen oder zu verschweigen vornehmen kann, kann deinen Tod auch nur um fünf Minuten hinausschieben. Wir werden nicht einmal voneinander wissen, ob wir noch leben oder schon tot sind. Wir werden vollkommen machtlos sein. Wenn auch selbst das nicht den geringsten Unterschied ausmacht, so kommt es doch einzig und allein darauf an, daß wir einander nicht verraten.«
    »Wenn du damit das Geständnis meinst«, sagte sie, »so werden wir es nur allzu bald ablegen. Alle gestehen sie. Man kann nichts dagegen machen. Sie foltern einen.«
    »Ich meine nicht: gestehen. Ein Geständnis ist kein Verrat. Was man sagt oder tut, ist nicht wichtig: es kommt darauf an, was man fühlt. Wenn sie mich soweit brächten, dich nicht mehr zu lieben – das wäre wirklicher Verrat.«
    Sie überlegte. »Das bringen sie nicht fertig«, sagte sie schließlich. »Das ist das einzige, was sie nicht können. Sie können dich zwingen, alles zu sagen – alles –, aber sie können dich nicht zwingen, es zu glauben.
    Sie haben keine Macht über dein Inneres.«
    »Nein«, gab er ein wenig hoffnungsvoller zu, »nein, das ist wirklich

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