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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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ausgesprochen hatte, wußte er nicht, welches Wort er sagen würde. »Nein«, sagte er schließlich.
    »Sie taten gut daran, mir das zu sagen«, sagte O'Brien. »Es ist notwendig für uns, alles zu wissen.«
    Er wandte sich Julia zu und fügte mit einer ein wenig ausdrucksvolleren Stimme hinzu:
    »Begreifen Sie auch, daß er, selbst wenn er am Leben bleibt, das möglicherweise als ein ganz anderer Mensch tut? Wir könnten gezwungen sein, einen völlig anderen Menschen aus ihm zu machen.
    Sein Gesicht, seine Art, sich zu bewegen, die Form seiner Hände, die Farbe seiner Haare – ja sogar seine Stimme wären anders.
    Und auch Sie selbst könnten ein anderer Mensch geworden sein.
    Unsere Chirurgen können einen Menschen bis zum Nichtwiedererkennen verändern! Manchmal ist das nötig. Manchmal amputieren wir sogar ein Glied.«
    Winston konnte nicht umhin, noch einmal einen verstohlenen Blick auf Martins Mongolengesicht zu werfen. Er konnte keine Operationsnarben darauf entdecken. Julia war um eine Schattierung bleicher geworden, so daß die Sommersprossen hervortraten, aber sie sah O'Brien tapfer an. Sie murmelte etwas, das wie Zustimmung klang.
    »Gut. Dann wäre das in Ordnung.«
    Eine silberne Zigarettendose stand auf dem Tisch. Mit einer etwas zerstreuten Miene schob O'Brien sie den anderen hin, nahm selbst eine Zigarette, stand dann auf und begann langsam hin und her zu gehen, so, als könnte er stehend besser denken. Es waren sehr gute Zigaretten, prall gefüllt, mit einem ungewohnten feinen Papier. O'Brien blickte wieder auf seine Armbanduhr.
    »Sie gehen jetzt besser zu Ihrer Arbeit, Martin«, sagte er. »In einer Viertelstunde schalte ich ein. Sehen Sie sich die Gesichter dieser Genossen an, bevor Sie gehen. Sie werden sie wiedersehen. Ich vielleicht nicht.«
    Genau wie sie es vorher an der Eingangstür getan hatten, huschten die schwarzen Augen des kleinen Mannes über ihre Gesichter. Keine Spur von Freundlichkeit sprach aus seiner Art. Er prägte sich ihre Erscheinung ein, aber er empfand kein Interesse für sie, so wenig wie er sich anmerken ließ, daß er keines empfand. Der Gedanke schoß Winston durch den Kopf, daß ein künstlich zusammengenähtes Gesicht vielleicht seinen Ausdruck verändern konnte. Ohne ein Wort oder einen Gruß ging Martin hinaus, indem er leise die Tür hinter sich schloß. O'Brien schlenderte auf und ab, eine Hand in der Tasche seines schwarzen Trainingsanzugs, in der anderen die Zigarette.
    »Sie werden verstehen, daß Sie im Dunkeln kämpfen werden. Sie werden immer im Dunkeln sein. Sie erhalten Befehle und haben ihnen zu gehorchen, ohne das Warum zu wissen. Später werde ich Ihnen ein Buch senden, aus dem Sie die wahre Natur der Gesellschaftsordnung, in der wir leben, und die strategischen Maßnahmen, durch die wir sie zerstören wollen, kennenlernen. Wenn Sie das Buch gelesen haben, sind Sie in die Brüderschaft als Mitglieder aufgenommen. Aber abgesehen von den allgemeinen Zielen, für die wir kämpfen, und den jeweiligen augenblicklichen Aufgaben, werden Sie nie etwas wissen. Ich sage Ihnen, daß die Brüderschaft existiert, aber ich kann Ihnen nicht sagen, ob ihre Mitgliederzahl hundert oder zehn Millionen beträgt. Aus Ihrem persönlichen Wissen heraus werden Sie nie imstande sein zu sagen, ob sie auch nur ein Dutzend Anhänger hat. Sie werden drei oder vier Mittelsmänner kennen, die von Zeit zu Zeit ersetzt werden, je nachdem sie verschwinden. Da ich der erste bin, mit dem Sie in Berührung kamen, bleibt es dabei. Wenn Sie Befehle erhalten, kommen sie von mir. Wenn wir es für nötig befinden, uns mit Ihnen in Verbindung zu setzen, so geschieht das durch Martin. Wenn Sie zu guter Letzt erwischt werden, dann werden Sie gestehen. Dagegen läßt sich nichts machen. Aber Sie werden sehr wenig anderes zu gestehen haben als das, was Sie selbst getan haben. Sie werden nicht imstande sein, mehr als ein halbes Dutzend unwichtiger Menschen zu verraten. Vermutlich werden Sie nicht einmal mich verraten. Wenn es soweit ist, bin ich vielleicht tot oder ein anderer Mensch mit einem anderen Gesicht geworden.«
    Er fuhr fort, über den weichen Teppich hin und her zu gehen. Trotz der Schwere seines Körpers bewegte er sich mit einer auffallenden Grazie. Sie äußerte sich sogar in der Bewegung, mit der er seine Hand in die Tasche steckte oder seine Zigarette hielt. Mehr noch als den der Kraft erweckte er einen Eindruck der Vertrauenswürdigkeit und eines leise mit Ironie gefärbten

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