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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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riesige, aus elektrischen Glühbirnen zusammengesetzte Flasche, die sich zu neigen und aufzurichten und ihren Inhalt in ein Glas zu leeren schien. Von oben gesehen, sah das Getränk fast schwarz aus, aber in der Karaffe schimmerte es rot wie ein Rubin. Es hatte einen sauersüßen Geruch. Er sah, wie Julia ihr Glas ergriff und mit offen eingestandener Neugier daran schnupperte.
    »Man nennt es Wein«, erklärte O'Brien mit einem leisen Lächeln. »Sie haben sicherlich schon davon in Büchern gelesen. Nicht viel davon sickert bis zur Äußeren Partei durch, fürchte ich.« Sein Gesicht wurde wieder ernst, und er hob sein Glas: »Ich glaube, es ist wohl angebracht, daß wir damit beginnen, miteinander anzustoßen. Auf das Wohl unseres Führers: Hoch lebe Immanuel Goldstein!«
    Winston hob sein Glas mit einer gewissen Ungeduld. Wein war etwas, von dem er gelesen und geträumt hatte. Wie der gläserne Briefbeschwerer oder Mr. Charringtons halberinnerte Reime gehörte er der ausgetilgten romantischen Vergangenheit an, der guten alten Zeit, wie er sie in seinen geheimen Gedanken zu nennen pflegte. Aus irgendeinem Grunde hatte er immer geglaubt, Wein habe einen äußerst süßen Geschmack, ähnlich wie Brombeermarmelade, und eine unmittelbar berauschende Wirkung. In Wirklichkeit war das Getränk, als er es nun schluckte, ausgesprochen enttäuschend. In Wahrheit hinterließ es, nach Jahren des Gin-Trinkens, kaum einen Geschmack auf seiner Zunge. Er stellte das geleerte Glas hin.
    »Es gibt also einen Menschen wie Goldstein?« sagte er.
    »Ja, diesen Menschen gibt es, und er lebt. Wo, weiß ich nicht.«
    »Und die Verschwörung – die Organisation? Besteht sie wirklich? Ist sie nicht nur eine Erfindung der Gedankenpolizei?«
    »Nein, sie besteht wirklich. Die ›Brüderschaft‹ wird sie von uns genannt. Sie werden nie sehr viel mehr von der Brüderschaft erfahren, als daß es sie gibt und daß Sie ihr angehören. Ich werde gleich darauf zurückkommen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Es ist unklug, sogar für Mitglieder der Inneren Partei, den Televisor länger als eine halbe Stunde abzustellen. Sie hätten nicht zusammen herkommen sollen, und Sie müssen getrennt fortgehen. Sie, Genossin« – und er nickte Julia mit dem Kopf zu –, »gehen zuerst. Wir haben noch etwa zwanzig Minuten zur Verfügung. Sie werden verstehen, daß ich damit beginnen muß, Ihnen gewisse Fragen zu stellen. Um es kurz zu machen: Was sind Sie bereit zu unternehmen?«
    »Alles, wozu wir imstande sind«, sagte Winston.
    O'Brien hatte eine kleine Drehung auf seinem Stuhl gemacht, so daß er jetzt Winston vor sich hatte. Er ließ Julia fast unbeachtet und schien es als selbstverständlich anzunehmen, daß Winston auch in ihrem Namen sprechen konnte. Einen Augenblick klappten die Lider über seine Augen. Er fing an, seine Fragen mit langsamer, ausdrucksloser Stimme zu stellen, so, als handle es sich um eine Schablone, eine Art Abhören aus dem Katechismus, bei dem er die meisten Antworten schon im voraus kannte.
    »Sie sind bereit, Ihr Leben zu opfern?«
    »Ja.«
    »Sie sind bereit, einen Mord zu begehen?«
    »Ja.«
    »Sabotageakte zu begehen, die vielleicht den Tod von Hunderten von unschuldigen Menschen herbeiführen?«
    »Ja.«
    »Ihr Land an Feindmächte zu verraten?«
    »Ja.«
    »Sie sind bereit, zu betrügen, zu fälschen, zu erpressen, die Gesinnung von Kindern zu verderben, süchtigmachende Rauschgifte unter die Leute zu bringen, die Prostitution zu ermutigen, Geschlechtskrankheiten zu verbreiten – alles zu tun, was dazu angetan ist, einen Verfall herbeizuführen und die Macht der Partei zu untergraben?«
    »Ja.«
    »Wenn es zum Beispiel irgendwie unseren Interessen dienlich sein sollte, einem Kind Schwefelsäure ins Gesicht zu schütten – sind Sie dazu bereit?«
    »Ja.«
    »Sie sind dazu bereit, Ihre bisherige Persönlichkeit aufzugeben und für den Rest Ihres Lebens als Kellner oder Hafenarbeiter durchs Leben zu gehen?«
    »Ja.«
    »Sie sind bereit, Selbstmord zu verüben, wenn und wann wir Ihnen das befehlen?«
    »Ja.«
    »Sie sind also beide bereit, sich zu trennen und einander nie wiederzusehen?«
    »Nein!« fiel Julia ein.
    Es kam Winston vor, als sei eine lange Zeit verstrichen, ehe er antwortete. Einen Augenblick schien er sogar der Sprache beraubt gewesen zu sein. Seine Zunge brachte keinen Laut hervor, während sie immer wieder die Anfangssilben erst des einen, dann des anderen Wortes zu formen versuchte. Ehe er es nicht

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