1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
von ihm abgefallen zu sein, aber sein Gesichtsausdruck war finsterer als gewöhnlich, so als wäre es ihm nicht erwünscht, gestört zu werden. Zu der Furcht, die bereits von Winston Besitz ergriffen hatte, kam plötzlich noch so etwas wie ganz gewöhnliche Verlegenheit hinzu. Es schien ihm durchaus möglich, daß er ganz einfach einen dummen Irrtum begangen hatte. Denn welchen Beweis hatte er in Wirklichkeit, daß O'Brien ein politischer Verschwörer war? Nur einen getauschten Blick und eine einzige zweideutige Bemerkung: darüber hinaus lediglich seine eigenen, auf einen Traum gestützten Hoffnungen. Er konnte nicht einmal zu dem Vorwand Zuflucht nehmen, gekommen zu sein, um das Wörterbuch zu entlehnen, denn in diesem Fall war es unmöglich, Julias Anwesenheit zu erklären. Als O'Brien am Televisor vorbeikam, schien ihm etwas einzufallen. Er blieb stehen, machte einen Schritt zur Seite und drehte an einem an der Wand angebrachten Knopf. Man hörte ein kurzes Knacken. Die Stimme war verstummt.
Julia stieß einen kurzen Laut, eine Art überraschtes Quieken aus. Trotz aller seiner Ängste war Winston zu verblüfft, um den Mund halten zu können.
»Sie können ihn ja abstellen!« sagte er.
»Ja«, sagte O'Brien, »wir können ihn abstellen. Wir haben dieses Vorrecht.«
Er stand jetzt vor ihnen. Seine mächtige Erscheinung überragte die beiden, und der Ausdruck seines Gesichts war noch immer undurchdringlich. Er wartete, ein wenig streng, daß Winston sprechen sollte, aber was sollte dieser schon sagen? Sogar jetzt noch war es undenkbar, daß der andere nur ein vielbeschäftigter Mann war, der sich ärgerlich fragte, warum man ihn gestört hatte. Niemand sprach. Nachdem der Televisor abgestellt war, schien in dem Zimmer eine tödliche Stille zu herrschen. Mit erdrückender Langsamkeit verstrichen die Sekunden. Krampfhaft hielt Winston seinen Blick weiter in den O'Briens gerichtet. Dann verzog sich das grimmige Gesicht plötzlich zu dem, was man den Anflug eines Lächelns hätte nennen können. Mit seiner charakteristischen Bewegung rückte O'Brien seine Brille auf der Nase zurecht.
»Soll ich es sagen oder wollen Sie?« sagte er.
»Ich will es aussprechen«, sagte Winston sofort. »Das Ding dort ist auch wirklich abgestellt?«
»Ja, alles ist abgeschaltet. Wir sind allein.«
»Wir sind hier hergekommen, weil –«
Er hielt inne, da er sich zum erstenmal der Unklarheit seiner Beweggründe bewußt wurde. Da er nicht wirklich wußte, in welcher Form er Unterstützung von O'Brien erwartete, war es nicht leicht zu sagen, warum er hergekommen war. Er fuhr fort, wobei er sich bewußt war, daß seine Worte sowohl schwach als auch bombastisch klingen mußten:
»Wir glauben, daß es eine Verschwörung, eine Art Geheimorganisation, die gegen die Partei tätig ist, gibt und daß Sie damit zu tun haben. Wir wollen ihr beitreten und für sie arbeiten. Wir sind Feinde der Partei.
Wir glauben nicht an die Doktrin von Engsoz. Wir sind Gedankenverbrecher. Wir sind auch Ehefrevler. Wir sagen Ihnen das, weil wir uns Ihnen ganz auf Gnade oder Ungnade ausliefern wollen. Wenn Sie wünschen, daß wir uns noch auf irgendeine andere Art und Weise belasten, sind wir auch dazu bereit.«
Er stockte und warf einen Blick über seine Schulter aus dem Gefühl heraus, die Tür habe sich geöffnet.
Richtig, der kleine, gelbgesichtige Diener war, ohne anzuklopfen, hereingekommen.
Winston sah, daß er ein Tablett mit einer Karaffe und Gläsern trug.
»Martin ist einer von den unsrigen«, sagte O'Brien gelassen. »Bringen Sie die Gläser hierher, Martin.
Stellen Sie sie auf den runden Tisch. Haben wir genügend Stühle? Dann können wir uns ebenso gut setzen und gemütlich reden. Holen Sie sich auch einen Stuhl für sich selbst, Martin. Hier handelt es sich um Geschäftliches. Betrachten Sie sich die nächsten zehn Minuten nicht als Diener.«
Der kleine Mann setzte sich und machte sich's einigermaßen bequem, aber doch in einer bedientenhaften Art, der Art eines Kammerdieners, dem ein Vorrecht eingeräumt wird. Winston betrachtete ihn von der Seite. Es kam ihm zum Bewußtsein, daß das ganze Leben dieses Mannes Schauspielerei war und er es als gefährlich empfand, auch nur einen Augenblick aus der Rolle zu fallen. O'Brien ergriff die Karaffe am Halse und füllte die Gläser mit einer dunkelroten Flüssigkeit. Sie weckte in Winston dunkle Erinnerungen an etwas vor langer Zeit an einer Hauswand oder einer Reklamefläche Gesehenes – eine
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