Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
Vom Netzwerk:
gleiche Teile geteilt werden sollte. Plötzlich hörte sich Winston, als vernehme er die Stimme eines fremden Menschen, mit schallender Stimme fordern, man solle ihm das ganze Stück geben. Seine Mutter ermahnte ihn, nicht so habgierig zu sein. Ein langes, nicht endenwollendes Hin und Her mit Geschrei, Gejammer, Tränen, Vorwürfen und Feilschen war die Folge. Seine winzige Schwester, die sich genau wie ein kleines Äffchen mit beiden Ärmchen an seine Mutter klammerte, saß dabei und sah ihn über deren Schulter hinweg mit großen traurigen Augen an. Schließlich brach seine Mutter drei Viertel von der Schokolade ab, gab sie Winston und das letzte Viertel seiner Schwester. Das Kind nahm es und sah es mit müdem Blick an; vielleicht wußte es gar nicht, was es war. Winston stand dabei und beobachtete es einen Augenblick. Dann riß er mit einem plötzlichen raschen Sprung seiner Schwester die Schokolade aus der Hand und suchte die Tür zu erreichen.
    »Winston! Winston!« rief ihm seine Mutter nach. »Komm her! Gib deiner Schwester die Schokolade zurück!«
    Er blieb stehen, kam aber nicht zurück. Die ängstlichen Augen der Mutter waren auf sein Gesicht gerichtet. Sogar in diesem Moment noch dachte sie an das bewußte Ereignis, das bald eintreten mußte und das ihm rätselhaft war. Da seine Schwester gemerkt hatte, daß man ihr etwas weggenommen hatte, war sie in ein schwaches Wehklagen ausgebrochen. Seine Mutter legte den Arm um das Kind und preßte sein Gesicht an ihre Brust. Etwas an dieser Gebärde sagte ihm, daß seine Schwester bald sterben müsse. Er machte kehrt und rannte die Treppe hinunter, in der Hand die sich auflösende Schokolade.
    Er sollte seine Mutter nie wiedersehen. Nachdem er die Schokolade verschlungen hatte, schämte er sich ein wenig vor sich selber und trieb sich mehrere Stunden auf der Straße herum, bis ihn der Hunger heimtrieb. Als er nach Hause kam, war seine Mutter verschwunden. Das war zu jener Zeit bereits Normalzustand geworden. Außer seiner Mutter und Schwester fehlte nichts im Zimmer. Sie hatten keine Kleider mitgenommen, nicht einmal den Mantel seiner Mutter. Bis zum heutigen Tag hatte er keine Gewißheit, ob seine Mutter tot war. Es war durchaus möglich, daß sie nur in ein Zwangsarbeitslager verschickt worden war. Was seine Schwester anbetraf, so konnte sie, wie Winston selbst, in ein Heim für elternlose Kinder (Auffanglager zur Ertüchtigung wurden sie genannt) gesteckt worden sein, die als eine Folge des Bürgerkriegs entstanden waren; vielleicht war sie auch zusammen mit der Mutter in ein Arbeitslager verschickt oder einfach irgendwo sich selbst und dem Tod überlassen worden.
    Sein Traum stand noch ganz frisch in seinem Gedächtnis, vor allem die einhüllende, schützende Armbewegung, in der die tiefere Bedeutung enthalten zu sein schien. Es fiel ihm ein anderer Traum ein, den er vor zwei Monaten gehabt hatte. Darin hatte seine Mutter genau wie hier mit dem fest an sie geklammerten Kind auf dem armseligen Bett mit der weißen Decke, tief unter ihm, und mit jedem Augenblick noch tiefer versinkend, in einem untergehenden Schiff gesessen und ihn unverwandt durch das immer dunkler werdende Wasser angeblickt.
    Er erzählte Julia die Geschichte von dem Verschwinden seiner Mutter. Ohne die Augen aufzumachen, wälzte sie sich in eine bequemere Lage.
    »Vermutlich warst du damals ein widerliches kleines Miststück«, sagte sie ausdruckslos. »Alle Kinder sind Miststücke.«
    »Ja, aber der springende Punkt an der Geschichte . . .«
    An ihren Atemzügen war zu merken, daß sie wieder im Begriff war einzuschlafen. Er hätte gerne weiter von seiner Mutter gesprochen. Nach allem, was er von ihr behalten konnte, nahm er nicht an, daß sie eine ungewöhnliche, geschweige denn eine besonders intelligente Frau gewesen war. Und doch war an ihr etwas Edles, eine Art von Lauterkeit, ganz einfach, weil sie sich selber treu geblieben war. Ihre Gefühle kamen tief aus ihrem Inneren und konnten nicht von außen her verändert werden. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, eine Handlung für bedeutungslos zu halten, weil sie keinen praktischen Zweck hatte. Wenn man jemanden liebte, so liebte man ihn, und wenn man ihm schon nichts anderes zu geben hatte, so schenkte man ihm seine Liebe. Als das letzte Stückchen Schokolade fort war, hatte seine Mutter das Kind in ihre Arme geschlossen. Das hatte keinen Zweck, änderte nichts, schaffte nicht mehr Schokolade herbei, konnte weder den Tod des Kindes

Weitere Kostenlose Bücher