1984
zu Mund, von einem Eingeweihten zum anderen, konnten sie das Geheimnis weitergeben. Die Frau da unten wußte von nichts, sie bestand nur aus starken Armen, einem warmen Herzen und einem fruchtbaren Leib. Er fragte sich, wie viele Kinder sie wohl geboren hatte. Es mochten leicht fünfzehn sein. Sie hatte ihre vielleicht ein Jahr währende kurze Blütezeit einer Wildrosen-Schönheit durchlebt und war dann plötzlich aufgegangen wie eine befruchtete Frucht, war hart, rot und derb geworden, und dann hatte ihr Leben ohne Unterbrechung dreißig Jahre hindurch aus Waschen, Reinemachen, Flicken, Kochen, Fegen, Putzen, Nähen, Schrubben, Wäschewaschen, erst für Kinder, dann für Enkelkinder, bestanden. Am Ende von alledem sang sie noch immer. Die geheimnisvolle Verehrung, die er für sie empfand, war irgendwie vermischt mit dem Anblick des hellen, wolkenlosen Himmels, der sich hinter den Kaminrohren in grenzenlose Ferne erstreckte. Es war merkwürdig zu denken, daß der Himmel für jedermann gleich war, in Eurasien oder Ostasien so gut wie hier. Und die Menschen unter dem Himmel waren auch fast ganz gleich – überall auf der ganzen Welt, Hunderte oder Tausende von Millionen Menschen, die auch so waren; Menschen, bei denen einer nichts vom Leben des anderen wußte, die von Mauern des Hasses und der Lüge getrennt gehalten wurden und doch fast gleich waren –, Menschen, die nie denken gelernt hatten, die aber in ihren Herzen und Leibern und Muskeln die Macht aufspeicherten, die eines Tages die Welt umstürzen würde. Wenn es eine Hoffnung gab, dann lag sie bei den Proles! Ohne das Buch zu Ende gelesen zu haben, wußte er, daß darin Goldsteins letzte Botschaft bestehen mußte. Die Zukunft gehörte den Proles. Aber konnte er sicher sein, daß die Welt, die sie aufbauten, ihm, Winston Smith, nicht ebenso fremd sein würde wie die Welt der Partei? Ja, denn letzten Endes würde es eine geistig gesunde Welt sein. Wo Gleichheit gilt, da kann der gesunde Menschenverstand walten. Früher oder später würde es dahin kommen, die Kraft würde sich ihrer bewußt werden. Die Proles waren unsterblich, daran konnte man nicht zweifeln, wenn man diese tapfere Gestalt im Hof ansah. Zu guter Letzt würden sie erwachen. Und bis es soweit war – wenn es auch tausend Jahre dauern mochte –, würden sie trotz aller Unbilden sich am Leben erhalten wie die Vögel und von Leib zu Leib die Lebenskraft weitergeben, an der die Partei nicht teilhatte und die sie nicht umbringen konnte.
»Erinnerst du dich«, sagte er, »an die Drossel, die uns an jenem ersten Tag am Rand des Wäldchens etwas vorsang?«
»Sie sang nicht für uns«, sagte Julia. »Sie sang zu ihrem Vergnügen. Noch nicht einmal das. Sie sang nur eben.«
Die Vögel sangen, die Proles sangen, aber die Partei sang nicht. In der ganzen Welt, in London und New York, in Afrika, Brasilien und in den geheimnisvollen verbotenen Ländern hinter den Grenzen, in den Straßen von Paris und Berlin, in den Dörfern der endlosen russischen Weite, in den Basaren von China und Japan – überall stand die gleiche feste, unerschütterliche Gestalt, unförmig geworden durch Arbeit und Niederkünfte, die von der Wiege bis zum Grabe schwer schuftet und dennoch singt. Aus diesem mächtigen Schoß mußte eines Tages ein Geschlecht wissender Menschen hervorgehen. Ihr seid die Toten; die Zukunft gehört ihnen. Aber man konnte teilhaben an dieser Zukunft, wenn man den Geist lebendig erhielt, so wie sie den Leib lebendig erhielten, und die geheime Lehre weitergab, daß zwei und zwei gleich vier ist.
»Wir sind die Toten«, sagte er.
»Wir sind die Toten«, betete Julia getreulich nach.
»Ihr seid die Toten«, sagte eine eiserne Stimme hinter ihnen.
Sie fuhren auseinander. Winston fühlte seine Eingeweide zu Eis erstarren. Er konnte rund um die Iris von Julias Augen das Weiße sehen. Ihr Gesicht hatte sich milchiggelb verfärbt. Das noch auf jedem Backenknochen vorhandene Rouge hob sich scharf ab, fast wie ohne Zusammenhang mit der Haut darunter.
»Ihr seid die Toten«, wiederholte die eiserne Stimme.
»Es kam hinter dem Bild hervor«, flüsterte Julia.
»Es kam hinter dem Bild hervor«, sagte die Stimme. »Bleibt genau da stehen, wo ihr seid. Macht keine Bewegung, ehe es euch befohlen wird.«
Es war soweit, endlich war es soweit! Sie konnten nichts machen, außer dazustehen und einander in die Augen zu starren. Auf und davon zu laufen, das Haus zu verlassen, ehe es zu spät war – ein solcher Gedanke
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