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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Smith W.! In der Zelle Hände aus der Tasche!«
    Er saß wieder still da, seine Hände über dem Knie verschränkt. Bevor man ihn hierher gebracht hatte, war er an einen anderen Ort gebracht worden, der ein gewöhnliches Gefängnis oder ein von den Polizeistreifen benutzter vorübergehender Gewahrsam gewesen sein mußte. Er wußte nicht, wie lange er dort gewesen war; jedenfalls einige Stunden; ohne Uhr und ohne Tageslicht war es schwer, die Zeit abzuschätzen. Es war ein lärmender, übelriechender Ort gewesen. Man hatte ihn in eine Zelle gesteckt, die der ähnelte, in der er sich jetzt befand, aber grauenhaft schmutzig und ständig mit zehn bis fünfzehn Menschen belegt war. Die Mehrzahl davon waren gemeine Verbrecher, aber es gab ein paar politische Gefangene unter ihnen. Er hatte still gegen die Wand gelehnt dagesessen, zwischen schmutzigen Leibern herumgestoßen, zu sehr mit seiner Angst und seinen Leibschmerzen beschäftigt, um großes Interesse an seiner Umgebung zu nehmen. Aber er gewahrte doch den erstaunlichen Unterschied im Verhalten gegenüber den Partei-Gefangenen und den anderen. Die Partei-Gefangenen waren immer stumm und voll Furcht, aber die gewöhnlichen Gefangenen schienen nichts und niemanden zu scheuen. Sie schrien dem Wachpersonal Beschimpfungen zu. wehrten sich wütend, wenn ihre Sachen beschlagnahmt wurden, schrieben unflätige Worte auf den Fußboden, aßen eingeschmuggelte Nahrungsmittel, die sie aus geheimnisvollen Verstecken ihrer Kleidung hervorzogen, und schrien sogar den Televisor nieder, wenn er die Ordnung wiederherzustellen versuchte. Andererseits schienen manche von ihnen auf gutem Fuß mit den Wachen zu stehen, nannten sie bei Spitznamen und versuchten Zigaretten durch das Guckloch in der Tür zu schieben. Die Wachen wiederum behandelten die gewöhnlichen Gefangenen mit einer gewissen Nachsicht, auch wenn sie derb mit ihnen umspringen mußten. Es wurde viel von den Zwangsarbeitslagern geredet, und die meisten Gefangenen erwarteten, dorthin verschickt zu werden. Es war »erträglich« in diesen Lagern, reimte er sich zusammen, solange man gute Beziehungen hatte und den ganzen Rummel kannte. Es herrschte dort Bestechung, Bevorzugung und organisiertes Verbrechertum aller Art, es gab Homosexualität und Prostitution, es gab sogar aus Kartoffeln heimlich gebrannten Schnaps. Die Vertrauensposten bekamen nur die gewöhnlichen Verbrecher, besonders Gewaltverbrecher und Mörder, die eine Art Aristokratie bildeten. Alle schmutzigen Arbeiten wurden von den Politischen verrichtet.
    Es war ein dauerndes Kommen und Gehen von Gefangenen aller Art: von Rauschgifthändlern, Dieben, Straßenräubern, Schwarzhändlern, Trunkenbolden, Prostituierten. Manche von den Betrunkenen waren so 102
    George Orwell – 1984
    außer Rand und Band, daß die anderen Gefangenen sich zusammentun mußten, um sie zu überwältigen.
    Ein riesiges Wrack von einem Weib, etwa sechzigjährig, mit großen Hängebrüsten und dicken, aufgerollten weißen Haarlocken, die bei ihrem Kampf aufgegangen waren, wurde, mit Füßen und Händen um sich schlagend und schreiend, von vier Wachen hereingetragen, die sie jeder an einem Ende festhielten. Sie rissen ihr die Schuhe herunter, mit denen sie ihnen Tritte zu versetzen versuchte, und schleuderten sie Winston in den Schoß, so daß ihm fast die Schenkelknochen brachen. Die Frau rappelte sich hoch und schrie ihnen »Verfluchte Sauhunde!« nach. Dann, als sie merkte, daß sie auf etwas Unebenem saß, rutschte sie von Winstons Knien herunter auf die Bank.
    »Verzeihung, mein Schatz«, sagte sie. »Ich hätte mich nicht auf Sie gesetzt, aber die Kerls schmissen mich da hin. Sie wissen nicht, wie man eine Dame behandelt.« Sie brach ab, tätschelte ihre Brust und rülpste.
    »Verzeihung«, sagte sie, »ich hab' noch nicht alle Sinne beieinander.«
    Sie beugte sich vor und erbrach sich ausgiebig auf den Fußboden.
    »So ist's besser«, sagte sie und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. »Nie es drunten lassen, sag'
    ich immer. Raus damit, solange es noch frisch im Magen ist.« Sie kam wieder zu sich, drehte sich um, um nochmals einen Blick auf Winston zu werfen, und schien sofort eine Vorliebe für ihn zu fassen. Sie legte einen dicken Arm um seine Schulter und zog ihn näher zu sich, wobei sie ihm Bierdunst und den Geruch von Erbrochenem ins Gesicht atmete.
    »Wie heißt du, Schatz?« sagte sie.
    »Smith«, antwortete Winston.
    »Smith?« sagte die Frau. »Das is' komisch. Ich

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