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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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heiße auch Smith. Denk mal«, fügte sie sentimental hinzu,
    »ich könnte deine Mutter sein.«
    Ja, dachte Winston, sie könnte seine Mutter sein. Sie war ungefähr im gleichen Alter und von entsprechender Körpergröße, und es war wahrscheinlich, daß sich die Menschen nach zwanzig Jahren in einem Zwangsarbeitslager einigermaßen veränderten.
    Sonst hatte niemand mit ihm gesprochen. In erstaunlichem Maße ignorierten die gewöhnlichen Verbrecher die Partei-Häftlinge. »Die Politischen« nannten sie sie mit einer Art uninteressierter Verachtung.
    Die Partei-Häftlinge schienen Angst zu haben, mit jemand zu sprechen, und vor allem, miteinander zu sprechen. Nur einmal, als zwei Parteiangehörige, beides Frauen, auf der Bank eng aneinandergepreßt wurden, hörte er zufällig in dem allgemeinen Stimmengewirr ein paar hastig geflüsterte Worte, und zwar war es eine Anspielung auf etwas, das als »Zimmer eins-null-eins« bezeichnet wurde, was er nicht verstand.
    Es mochte zwei oder drei Stunden her sein, daß man ihn hierher gebracht hatte. Der dumpfe Schmerz in seinem Magen hörte nicht auf, aber manchmal wurde es besser und dann wieder schlimmer, und seine Gedanken waren je nachdem in die weitere Zukunft oder nur auf den Augenblick gerichtet. Wenn er schlimmer wurde, dachte er nur an den Schmerz und an sein Verlangen nach Essen. Ließ er nach, so befiel ihn eine Panik. Es gab Augenblicke, in denen er die Dinge, die mit ihm geschehen würden, mit solcher Deutlichkeit voraussah, daß sein Herz raste und sein Atem stockte. Er fühlte die Schläge von Gummiknüppeln auf seinen schützend erhobenen Armen und eisenbeschlagene Stiefel gegen seine Schienbeine. Er sah sich auf dem Fußboden herumkriechen und zwischen eingeschlagenen Zähnen hervor um Gnade flehen. An Julia dachte er kaum. Er konnte sein Denken nicht auf sie konzentrieren. Er liebte sie und würde sie nicht verraten; aber das war nur eine Tatsache, die ihm so vertraut war wie die Regeln der Arithmetik. Er empfand keine Liebe für sie, und er fragte sich sogar kaum, was wohl mit ihr geschah.
    Häufiger dachte er an O'Brien, und zwar mit einer flackernden Hoffnung. O'Brien mußte wissen, daß er verhaftet worden war. Die Brüderschaft, hatte er gesagt, versuchte nie, ihre Mitglieder zu retten. Aber da war die Rasierklinge; sie würden die Rasierklinge schicken, wenn sie konnten. Er würde ungefähr fünf Sekunden Zeit haben, ehe die Wachen in die Zelle hereinstürmen konnten. Die Klinge würde mit schneidender Kälte in ihn eindringen, und sogar die Finger, die sie hielten, würden bis auf den Knochen durchgeschnitten werden. Alles hing von seinem hinfälligen Körper ab, der zitternd vor dem kleinsten Schmerz zurückschreckte. Er war nicht sicher, ob er die Rasierklinge benützen würde, sogar wenn sich ihm die Möglichkeit bot. Es war natürlicher, von einem Augenblick auf den anderen zu leben, weitere zehn Minuten Leben mit der Gewißheit hinzunehmen, daß ihn am Ende die Folterung erwartete.
    Manchmal versuchte er, die Porzellankacheln an den Wänden der Zelle zu zählen. Es mußte ganz leicht sein, aber er verzählte sich immer wieder an der einen oder anderen Stelle. Noch öfter fragte er sich, wo er sich wohl befand und welche Tageszeit es war. In dem einen Augenblick hatte er das sichere Gefühl, draußen sei heller Tag, im nächsten war er ebenso sicher, daß stockfinstere Dunkelheit herrschte. Hier an diesem Ort, wußte er instinktiv, wurde nie die künstliche Beleuchtung ausgeschaltet. Es war der Ort, an dem 103
    George Orwell – 1984
    es keine Dunkelheit gab: Er erkannte jetzt, warum O'Brien die Anspielung verstanden zu haben schien. Im Ministerium für Liebe gab es keine Fenster. Seine Zelle konnte im Innersten des Gebäudes gelegen sein oder hinter seiner Außenmauer, zehn Stockwerke unter dem Erdboden oder dreißig darüber. Er versetzte sich im Geist von Ort zu Ort und versuchte gefühlsmäßig zu entscheiden, ob er sich hoch droben in der Luft befand oder tief unter der Erde begraben war.
    Von draußen kam das Dröhnen marschierender Stiefel. Die Stahltür öffnete sich mit einem Klirren. Ein junger Offizier, eine schmucke schwarzuniformierte Gestalt, die von Kopf bis Fuß von poliertem Leder zu glänzen schien und deren bleiches, streng geschnittenes Gesicht wie eine Wachsmaske war, trat forsch durch den Türeingang. Er gab den draußen stehenden Wachen ein Zeichen, den von ihnen geführten Gefangenen hereinzubringen. Der Dichter Ampleforth

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