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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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torkelte in die Zelle. Die Tür schloß sich klirrend wieder.
    Ampleforth machte ein paar unsichere Bewegungen von einer Seite zur anderen, so als schwebe ihm etwas von einer anderen Tür vor, durch die er hinaus müsse. Dann begann er in der Zelle hin und her zu gehen. Er hatte Winstons Anwesenheit noch nicht bemerkt. Seine verwirrten Augen starrten etwa einen Meter über Winstons Kopfhöhe auf die Wand. Er war ohne Schuhe; große schmutzige Zehen lugten aus den Löchern in seinen Socken hervor. Auch war er seit mehreren Tagen nicht mehr rasiert. Ein struppiger Bart bedeckte sein Gesicht und verlieh ihm das Aussehen eines Straßenräubers, das schlecht zu seinem aufgeschossenen zarten Körper und seinen nervösen Bewegungen paßte.
    Winston richtete sich ein wenig aus seiner Lethargie hoch. Er mußte mit Ampleforth sprechen und es auf sich nehmen, durch den Televisor angebrüllt zu werden. Es war sogar denkbar, daß Ampleforth der Bote mit der Rasierklinge war.
    »Ampleforth«, sagte er.
    Aus dem Televisor erfolgte kein Anbrüllen. Ampleforth blieb ein wenig verblüfft stehen. Seine Augen richteten sich langsam auf Winston.
    »Ach, Smith!« sagte er. »Sie auch!«
    »Weswegen sind Sie hier?«
    »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen –.« Er setzte sich linkisch Winston gegenüber auf die Bank. »Es gibt nur ein Verbrechen – oder nicht?« sagte er.
    »Und haben Sie es begangen?«
    »Offenbar ja.«
    Er legte eine Hand an seine Stirn und preßte einen Augenblick seine Schläfen, so als versuche er sich an etwas zu erinnern.
    »Diese Dinge passieren eben«, begann er unbestimmt. »Es ist mir gelungen, mir einen Fall ins Gedächtnis zurückzurufen – einen möglichen Fall. Es war zweifellos eine Unklugheit. Wir stellten eine definitive Ausgabe der Gedichte Kiplings zusammen. Ich ließ das Wort ›Gott‹ am Ende einer Verszeile stehen. Ich konnte nicht anders!« fügte er nahezu ungehalten hinzu, indem er das Gesicht hob, um Winston anzusehen. »Es war einfach unmöglich, die Verszeile zu ändern. Der Reim endete mit ›Trott‹. Wissen Sie, daß es in unserer ganzen Sprache nur äußerst wenige Reime auf ›Trott‹ gibt? Tagelang zerbrach ich mir den Kopf. Es gab einfach keinen anderen Reim.«
    Sein Gesichtsausdruck änderte sich. Der Ärger verschwand daraus, und einen Augenblick sah er fast zufrieden aus. Eine Art geistiger Hochstimmung, die Freude des Pedanten, der eine nutzlose Tatsache entdeckt hat, leuchtete durch den Schmutz und das Haargestrüpp.
    »Ist Ihnen jemals in den Sinn gekommen«, sagte er, »daß die ganze Entwicklung der englischen Dichtkunst durch die Tatsache bestimmt wurde, daß es in der englischen Sprache nicht genug Reime gibt?«
    Nein, dieser besondere Gedanke war Winston nie gekommen. Auch kam er ihm, unter den gegebenen Umständen, nicht sehr wichtig oder interessant vor.
    »Wissen Sie, was für eine Tageszeit es ist?« fragte er.
    Ampleforth machte wieder ein erschrockenes Gesicht. »Ich habe noch kaum darüber nachgedacht. Man verhaftete mich – es kann zwei, vielleicht drei Tage her sein.« Seine Blicke huschten über die Wände, so als hoffe er halbwegs, irgendwo ein Fenster zu finden. »Hier an diesem Ort besteht kein Unterschied zwischen Tag und Nacht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man die Zeit berechnen könnte.«
    104
    George Orwell – 1984
    Ein paar Minuten unterhielten sie sich oberflächlich, dann, ohne offensichtlichen Grund, gebot ihnen ein Befehl aus dem Televisor Schweigen. Winston saß still da, mit übereinandergelegten Händen. Ampleforth, der zu groß war, um bequem auf der schmalen Bank sitzen zu können, rutschte zappelig von einer Seite auf die andere, verschränkte seine langen Hände erst um das eine Knie, dann um das andere. Der Televisor raunzte ihn an, sich ruhig zu verhalten. Die Zeit verstrich. Zwanzig Minuten, eine Stunde – es war schwer zu beurteilen. Wieder erscholl draußen ein Geräusch von Schritten. Winstons Eingeweide zogen sich zusammen. Bald, sehr bald, vielleicht in fünf Minuten, vielleicht jetzt, würde das Stiefelgetrampel bedeuten, daß die Reihe an ihn gekommen war.
    Die Tür öffnete sich. Der junge Offizier mit dem kalten Gesicht trat in die Zelle. Mit einer kurzen Handbewegung deutete er auf Ampleforth.
    »Zimmer 101«, sagte er.
    Ampleforth schritt schwerfällig zwischen den Wachen hinaus, sein Gesicht war ein wenig beunruhigt, jedoch ohne zu begreifen.
    Eine scheinbar lange Zeit verstrich. Der Schmerz in Winstons Bauch war wieder

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