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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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diese Mahnung zu triefenden Tränen bringen. Am Schluß erledigten ihn die quälenden Stimmen gründlicher als die Stiefel und Fäuste der Wachen. Er wurde nur noch zu einem Mund, der etwas stammelte, und einer Hand, die unterschrieb, was man von ihm wollte. Er hatte nur noch einen Wunsch, nämlich herauszufinden, was sie wollten, das er gestehen sollte, um es dann rasch zu gestehen, ehe die Quälerei von neuem anfing. Er bekannte sich schuldig der Ermordung führender Parteimitglieder, der Verbreitung aufrührerischer Flugschriften, der Unterschlagung öffentlicher Mittel, des Verrats militärischer Geheimnisse und der Sabotage aller Art. Er bekannte, bereits im Jahre 1968 ein von der Regierung Ostasiens bezahlter Spion gewesen zu sein. Er bekannte sich als einen religiös Gläubigen, einen Bewunderer des Kapitalismus und eines sexuell Pervertierten. Er bekannte, seine Frau ermordet zu haben, obwohl er wußte – und seine Befrager wissen mußten –, daß seine Frau noch am Leben war. Er bekannte, seit Jahren in persönlicher Verbindung mit Goldstein gestanden zu haben und das Mitglied einer Untergrundorganisation gewesen zu sein, der fast 109
    George Orwell – 1984
    jeder Mensch, den er nur je gekannt hatte, angehört hatte. Es war leichter, alles zu gestehen und Gott und die Welt mit hineinzuverwickeln. Außerdem war in gewisser Weise alles wahr. Es war wahr, daß er ein Feind der Partei gewesen war, und in den Augen der Partei bestand kein Unterschied zwischen Gedanken und Taten.
    Es gab auch noch andere Erinnerungen. Sie hoben sich in seinem Denken unzusammenhängend ab, wie rings von Dunkelheit umgebene Bilder.
    Er befand sich in einer Zelle, die entweder dunkel oder hell gewesen sein mochte, denn er konnte nichts als nur ein paar Augen unterscheiden. In seiner Nähe tickte langsam und regelmäßig ein Apparat. Die Augen wurden größer und leuchtender. Plötzlich schwebte er aus seinem Sitz empor, tauchte in die Augen und wurde aufgesogen.
    Er war unter blendendem Licht auf einen von Skalenscheiben umgebenen Stuhl festgeschnallt. Ein Mann in weißem Mantel las die Skalen ab. Draußen hörte man das Getrampel schwerer Stiefel. Die Tür öffnete sich klirrend. Der Offizier mit dem Wachsmaskengesicht marschierte, von zwei Wachen gefolgt, herein.
    »Zimmer 101«, sagte der Offizier.
    Der Mann im weißen Mantel drehte sich nicht um. Er sah auch Winston nicht an; er blickte nur auf die Skalen.
    Er wälzte sich einen riesigen Gang von einem Kilometer Breite hinunter, der von strahlendem, goldenem Licht erfüllt war, brüllend vor Lachen und mit Aufwand seiner ganzen Stimme Geständnisse hinausschreiend. Er gestand alles, sogar die Dinge, die er unter der Folter zu verschweigen fertiggebracht hatte. Er berichtete seine ganze Lebensgeschichte einer Zuhörerschaft, die sie bereits kannte. Mit ihm wälzten sich die Wachen, die anderen Verhörenden, die Männer in weißen Mänteln, O'Brien, Julia, Herr Charrington, alle zusammen vor Lachen brüllend den Gang hinunter. Etwas Schreckliches, das im Schoß der Zukunft gelegen hatte, war irgendwie übersprungen worden und nicht Wirklichkeit geworden. Alles war schön und gut, es gab keinen Schmerz mehr, die letzte Einzelheit seines Lebens war bloßgelegt, verstanden und vergeben.
    Er fuhr von der Pritsche hoch, in der halben Gewißheit, O'Briens Stimme gehört zu haben. Während seines ganzen Verhörs hatte er, obwohl er ihn nie gesehen hatte, das Gefühl gehabt, O'Brien stehe unmittelbar neben ihm, er sei es, der alles leitete. Er sei es, der die Wachen auf Winston hetzte und der sie daran hinderte, ihn zu töten. Ihm war, als entschied O'Brien darüber, wann Winston vor Schmerz schreien, wann er seine Erholungspause haben, wann er etwas zu essen bekommen, wann er schlafen sollte und wann die Drogen in seinen Arm eingespritzt werden sollten. Er stellte die Fragen und bestimmte die Antworten.
    Er war der Peiniger, der Beschützer, der Inquisitor, der Freund. Und einmal – Winston konnte sich nicht erinnern, ob es im narkotischen oder im Normalschlaf oder gar in einem Augenblick des Wachzustandes war
    – murmelte ihm eine Stimme ins Ohr: »Keine Angst, Winston, du bist in meiner Hut. Sieben Jahre habe ich dich beobachtet. Nun ist der Wendepunkt gekommen. Ich werde dich retten, dich zum Rechten führen.« Er war nicht sicher, ob es O'Briens Stimme war; aber es war die gleiche Stimme, die in jenem anderen Traum vor sieben Jahren zu ihm gesagt hatte: »Wir werden uns an einem

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