1984
wieder die Angst. Manchmal dachte er mit einer schwachen Hoffnung an O'Brien und die Rasierklinge. Es war denkbar, daß die Rasierklinge in seinem Essen versteckt kam, wenn er überhaupt jemals etwas zu essen erhielt.
Unbestimmter dachte er an Julia. Irgendwo litt sie, vielleicht noch schlimmer als er. Sie schrie vielleicht in diesem Augenblick vor Schmerz. Er dachte: »Wenn ich Julia dadurch retten könnte, daß ich meine eigene Qual verdoppele, würde ich es tun? Ja, ich täte es.« Aber das war nur ein verstandesmäßiger Entschluß, den er in dem Bewußtsein faßte, daß er es tun sollte. Er empfand ihn nicht. Hier, an diesem Ort, konnte man nichts empfinden, außer Qual und dem Vorauswissen der Qual. War es außerdem möglich, aus welchem Grund auch immer zu wünschen, der eigene Schmerz möge sich vergrößern, wenn man ihn auch wirklich erlitt? Aber diese Frage war noch nicht beantwortbar.
Wieder näherten sich Stiefel. Die Tür öffnete sich. O'Brien kam herein.
Winston starrte auf seine Füße. Der Schreck des Anblicks ließ ihn alle Vorsicht außer acht lassen. Zum erstenmal seit vielen Jahren vergaß er, daß ein Televisor da war.
»Sie haben auch Sie erwischt!« rief er.
»Sie erwischten mich schon vor geraumer Zeit«, sagte O'Brien mit einer sanften, fast bedauernden Ironie.
Er trat beiseite, hinter ihm trat ein breitbrüstiger Wachmann mit einem langen schwarzen Gummiknüppel in der Hand hervor.
Ja, erkannte er jetzt, er hatte es immer gewußt. Aber jetzt war keine Zeit, daran zu denken. Alles, wofür er Augen hatte, war der Gummiknüppel in der Hand des Wachsoldaten. Er konnte überallhin treffen: auf den Scheitel, die Ohrspitze, den Oberarm, den Ellbogen –
Den Ellbogen! Er war, fast gelähmt, auf die Knie gesunken, während er mit seiner anderen Hand den getroffenen Ellbogen umklammerte. Alles war zu gelbem Licht explodiert. Unfaßlich, einfach unfaßlich, daß ein Schlag solchen Schmerz verursachen konnte! Es wurde lichter, und er konnte die beiden anderen sehen, wie sie auf ihn herabblickten. Der Wachmann lachte über seine Verkrümmungen. Eine Frage jedenfalls war beantwortet. Nie, aus keinem Grunde der Welt, konnte man eine Vergrößerung des Schmerzes wünschen.
Von dem Schmerz konnte man nur eines hoffen: nämlich, daß er aufhörte. Nichts auf der Welt war so schlimm wie körperlicher Schmerz. Angesichts des Schmerzes gibt es keine Helden . . . gibt es keine Helden
. . . dachte er wieder und immer wieder, während er sich auf dem Boden wand und vergeblich seinen kraftlos herunterbaumelnden Arm streichelte.
Zweites Kapitel
Er lag auf etwas, das sich wie ein Feldbett anfühlte, außer daß es höher vom Boden entfernt und daß er auf irgendeine Weise darauf gefesselt war, so daß er sich nicht rühren konnte. Licht, das stärker als gewöhnlich schien, fiel auf sein Gesicht. O'Brien stand neben ihm und blickte gespannt auf ihn herab. An der anderen Seite stand ein Mann in einem weißen Mantel, eine Injektionsspritze in der Hand.
Sogar nachdem er die Augen geöffnet hatte, nahm er seine Umgebung nur allmählich in sich auf. Er hatte den Eindruck, in dieses Zimmer aus einer ganz anderen Welt, einer Art von tief unter ihr gelegenen Unterwasserwelt, empor zutauchen. Wie lange er dort unten gewesen war, wußte er nicht. Seit dem Augenblick seiner Festnahme hatte er weder Dunkelheit noch Tageslicht zu sehen bekommen. Außerdem waren seine Erinnerungen unzusammenhängend. Es hatte Zeitspannen gegeben, in denen das Bewußtsein
– sogar die Art von Bewußtsein, die man im Schlaf hat – vollkommen ausgeschaltet gewesen war und sich nach einer Zwischenpause der Leere wieder eingeschaltet hatte. Aber ob diese Zwischenpausen Tage oder Wochen oder nur Sekunden währten, konnte er nicht sagen.
Mit jenem ersten Schlag auf den Ellbogen hatte der Alptraum begonnen. Erst später sollte er erfahren, daß alles, was damals geschah, lediglich ein Vorspiel, ein Schabloneverhör war, dem fast alle Gefangenen unterworfen wurden. Es gab eine lange Reihe von Verbrechen – Spionage, Sabotage und dergleichen –, deren sich jeder von Anfang an schuldig bekennen mußte. Das Geständnis war eine Formalität, wenn auch 108
George Orwell – 1984
die Folterung echt war. Wie oft er geschlagen worden war, wie lange die Prügeleien fortgesetzt wurden, konnte er sich nicht erinnern. Immer fielen fünf oder sechs Männer in schwarzen Uniformen gleichzeitig über ihn her. Manchmal bearbeiteten sie ihn mit den
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