Nächsten Sommer
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»Wieso kommst du denn erst jetzt?« Bernhard sieht mich an, als sei ich ihm eine Erklärung schuldig. »Erste Halbzeit ist schon vorbei.«
In ihm schwelt es. Wie immer, wenn er bei seiner Mutter war. Ich könnte ihm sagen, dass er meine Verspätung nicht persönlich nehmen soll, aber Bernhard nimmt selbst schlechtes Wetter persönlich. Ich könnte ihm auch sagen, dass mich Fußball nicht interessiert, nie interessiert hat und nie interessieren wird und ich nicht einmal weiß, wer gegen wen spielt – und nur gekommen bin, weil Marc meinte, ich solle mich nicht immer in meiner Tonne verkriechen. Und weil ich ihm etwas zu erzählen habe.
»Tut mir leid«, antworte ich.
Das war offenbar, was er hören wollte, jedenfalls gibt Bernhard die Tür frei. »Macht ja nichts. Steht sowieso noch null zu null.«
In Bernhards Wohnung riecht es immer ein bisschen wie im Krankenhaus. Ein Geruch, der sich den Anschein des natürlichen geben will und doch aseptisch bleibt. Seine Diele ist ein Leichenschauhaus für Schuhe, in Edelstahl, klar lackiert. Sechzehn aufklappbare Fächer, hinter denen sich jeweils ein Schuhpaar verbirgt, auf der Stirnseite und auf der Seite gegenüber. Wenn man den Raum halbieren würde, könnte man die Seiten passgenau aufeinanderlegen.
Ich habe lange gebraucht, bevor mir klargeworden ist, dass ihn das aufrecht hält: Der Glaube an Symmetrie und Perfektion, daran, dass alles funktioniert und einen Sinn ergibt, solange es einer geometrischen Ordnung folgt. Marc meint, Ordnung sei Bernhards Religion – und dass er bestimmt früher seine Scheiße nicht angucken durfte.
Mir sind die ungeraden Zahlen lieber. Primzahlen zum Beispiel. Die sind ziemlich cool. Widersetzen sich jeder Formel. Man kann ihr Auftreten nicht berechnen. Das ist wie ein kosmisches Augenzwinkern. |6| Letztlich gibt es für alles eine Erklärung – was nicht heißt, dass wir sie je finden.
Zoe sitzt auf dem Sofa und sieht sensationell gelangweilt aus. »Hi, Felix«, sagt sie, als ich hereinkomme. Kurz zuckt ein Lächeln auf.
Sie wäre gerne woanders. Bei Ludger vermutlich, oder wenigstens an einem Ort, wo wichtige Menschen verkehren, solche, die man kennt, aus dem Fernsehen oder der Gala. Ludger, um das kurz zu klären, ist das »Voß« der Kanzlei »Voß & Weber«, einer der besten Adressen für Menschen, die im siebenstelligen Bereich Steuern hinterzogen haben und bevorzugt straffrei und ohne Aufsehen davonkommen möchten. Und er ist Zoes Chef. Voß ist der Boss. Aber Ludger und seine Frau sind heute bei Freunden in Schlachtensee eingeladen, und Bernhard hat so lange wegen des Fußballspiels nachgehakt, bis Zoe schließlich zugesagt hat und ihm sogar dankbar war.
Ich frage mich, ob es uns noch lange geben wird, so, zu viert. Ohne den unermüdlichen Bernhard, der an uns festhält wie an einer Sehnsucht, ohne die er verkümmern müsste, wären wir bestimmt längst unwiederbringlich in unterschiedliche Richtungen gedriftet. Marc hat bereits begonnen, mit seiner Gitarre die Welt zu erobern, Bernhard versucht so angestrengt, jemand anderer zu sein, dass er selbst bald ganz dahinter verschwinden wird, und Zoe zieht es in höhere Gefilde.
Marc sitzt auf dem Balkon und raucht seinen Guten-Abend-Joint.
»Diogenes!«, begrüßt er mich. Seit ich in dem Bauwagen wohne, nennt er mich gerne Diogenes, wenn er einen geraucht hat. »Wie ist es mit deinem Vater gelaufen?«
Ich setze mich neben ihn auf die Bank und lege wie er meine Füße auf die Brüstung. »Mit
dem
lief es wie immer.«
Marc hält mir seinen Joint hin: »Mal ziehen?«
Ist ein Running-Gag zwischen uns. Ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich nehme kein komisches Zeug.
»Später vielleicht«, antworte ich, »hab gerade erst ’ne Line gezogen.«
So sitzen wir, und Marc schmunzelt die gegenüberliegende |7| Hauswand an, als Bernhard ruft, dass es weitergeht. Er hat die Abendsonne im Gesicht, volle Breitseite. Ist der erste richtig warme Tag dieses Jahr. Gestern war noch Winter, eine Ahnung von Frühling im Gepäck. Heute ist alles anders. Die ganze Nacht durch im T-Shirt auf dem Fahrrad und trotzdem nicht frieren. Als würde man über LOS gehen und noch einmal von vorne anfangen.
Marc blinzelt trotz Sonnenbrille. Im Hof, in nagelneuem Grün, bäumt sich eine Kastanie auf.
»Irgendwann solltest du mal ziehen«, sagt er. »Leuchtet alles noch mal ganz anders.«
»Leuchtet mir genug, so wie es ist«, antworte ich.
Marc überlegt. »Leuchtet mir
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