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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Sie in Ihr Tagebuch geschrieben haben: ›Das Wie verstehe ich, aber nicht das Warum ‹. Wenn Sie über das ›Warum‹
    nachdachten, zweifelten Sie an Ihrer eigenen Vernunft. Sie haben das Buch , Goldsteins Buch, oder wenigstens Teile davon gelesen. Hat es Ihnen irgend etwas gesagt, was Sie nicht schon wußten?«
    »Sie haben es gelesen?« fragte Winston.
    »Ich schrieb es. Das heißt, ich arbeitete bei seiner Abfassung mit. Kein Buch wird von einem einzelnen hervorgebracht, wie Sie wissen.«
    »Ist es wahr, was darin steht?«
    118
    George Orwell – 1984
    »Als Schilderung, ja. Das Programm, das es entwickelt, ist Unsinn. Geheime Aufspeicherung von Wissen
    – eine allmählich um sich greifende Aufklärung – schließlich eine proletarische Erhebung – der Sturz der Partei. Sie sahen selbst voraus, daß es inhaltlich auf das hinauskommen würde. Das ist alles Unsinn. Die Proletarier werden sich nie erheben, nicht in tausend oder einer Million Jahren. Sie können es nicht. Ich brauche Ihnen den Grund nicht zu sagen: Sie kennen ihn bereits. Wenn Sie jemals Träume von einem gewaltsamen Aufstand gehegt haben, dann müssen Sie sie aufgeben. Es gibt keine Möglichkeit, mit Hilfe derer die Partei gestürzt werden könnte. Die Herrschaft der Partei gilt für immer.
    Nehmen Sie das zum Ausgangspunkt Ihrer Überlegungen.«
    Er trat näher an das Streckbett heran. »Für immer!« wiederholte er. »Und nun lassen Sie uns zu der Frage von ›Wie‹ und ›Warum‹ zurückkommen. Sie verstehen recht gut, wie die Partei sich an der Macht hält. Nun aber sagen Sie mir, warum halten wir an der Macht fest? Was ist unser Beweggrund? Warum sollten wir Macht wünschen? Los, reden Sie«, fügte er hinzu, als Winston stumm blieb.
    Trotzdem sagte Winston ein paar weitere Augenblicke lang nichts. Ein Gefühl des Überdrusses hatte ihn überkommen. Der undeutliche, irre Begeisterungsschimmer war wieder auf O'Briens Gesicht erschienen. Er wußte im voraus, was O'Brien sagen würde. Nämlich, daß die Partei die Macht nicht um ihrer eigenen Zwecke willen anstrebte, sondern nur zum Wohlergehen der Menschheit. Daß sie die Macht suchte, weil die Menschen in der Masse schwache, feige Kreaturen waren, die es nicht ertrugen, frei zu sein oder der Wahrheit ins Angesicht zu sehen, sondern von anderen, die stärker waren als sie, beherrscht und systematisch betrogen werden mußten. Daß die Menschheit die Wahl hatte zwischen Freiheit oder Glück, und daß – für die große Masse der Menschen – Glück besser war. Daß die Partei die ewige Behüterin der Schwachen war, eine geweihte Sekte, die Böses tat, auf daß das Gute kommen möge, und die ihr eigenes Glück dem anderer opferte.
    Das Schreckliche, dachte Winston, das Schreckliche war, daß O'Brien, wenn er das sagte, daran glaubte.
    Das konnte man seinem Gesicht ansehen. O'Brien wußte alles. Tausendmal besser als Winston wußte er, wie die Welt wirklich aussah, in welcher Erniedrigung die Masse der Menschen lebte und durch welche Lügen und Barbareien die Partei sie dort hielt. Er hatte alles das erkannt, alles abgewogen, und es machte nichts aus: alles war durch den Endzweck gerechtfertigt. Was kann man, dachte Winston, gegen den Wahnsinnigen machen, der klüger ist als man selbst, der die Argumente des anderen geduldig anhört und dann doch ganz einfach bei seinem Wahn beharrt?
    »Ihr herrscht über uns zu unserem eigenen Besten« sagte er schwach. »Ihr glaubt, daß die Menschen nicht imstande sind, sich selbst zu regieren, und deshalb –«
    Er fuhr zusammen und schrie fast laut auf. Eine Schmerzenswelle hatte seinen Körper durchbrandet.
    O'Brien hatte den Hebel der Zahlenscheibe auf fünfunddreißig hochgedreht.
    »Das war dumm, Winston, sehr dumm!« sagte er. »Sie sollten es besser wissen und so etwas nicht sagen.«
    Er drehte den Hebel zurück und fuhr fort:
    »Jetzt werde ich Ihnen die Antwort auf meine Frage geben. Sie lautet: Die Partei strebt die Macht lediglich in ihrem eigenen Interesse an. Uns ist nichts am Wohl anderer gelegen; uns interessiert einzig und allein die Macht als solche. Nicht Reichtum oder Luxus oder langes Leben oder Glück: nur Macht, reine Macht. Was reine Macht besagen will, werden Sie gleich verstehen. Wir sind darin von allen Oligarchien der Vergangenheit verschieden, daß wir wissen, was wir tun. Alle anderen, sogar die, welche uns ähnelten, waren feige und scheinheilig. Die deutschen Nazis und die russischen Kommunisten kamen in ihren Methoden sehr

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