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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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nach. Winston folgte ihr. Im Laufen entnahm er einigen Ausrufen, daß ein Transport eurasischer Gefangener auf der anderen Seite des Platzes unter schwerer Bewachung vorübergefahren wurde.
    Schon verkeilte eine dichte Menschenmenge die Südseite des Platzes. Winston, der sich normalerweise aus jedem Gedränge herauszuhalten versuchte, stieß und drängte sich seinen Weg durch die Menge. Bald stand er auf Armeslänge von dem Mädchen entfernt, doch war der Weg von einem riesigen Proles und einem fast ebenso riesigen Weibsstück, vermutlich seiner Frau, versperrt, die zusammen einen schier undurchdringlichen Fleischwall zu bilden schienen. Winston schob sich weiter seitwärts, und mit einem heftigen Vorstoß gelang es ihm, seine Schulter zwischen die beiden zu zwängen. Einen Augenblick war es, als ob seine Weichteile zwischen zwei muskulösen Hüften zermalmt werden sollten, dann hatte er sich leicht schwitzend durchgearbeitet. Er stand jetzt Schulter an Schulter neben dem Mädchen; beide blickten starr geradeaus.
    Eine lange Kolonne Lastwagen, auf denen verteilt Wachmannschaften mit wie aus Holz geschnitzten Gesichtern standen, die Maschinenpistolen griffbereit, rollte langsam die Straße entlang. Drinnen drängten sich eng zusammengepfercht kleine gelbgesichtige Männer in fadenscheinigen graugrünen Uniformen. Ihre traurigen Mongolengesichter blickten völlig teilnahmslos über die Seitenwände der Lastwagen.
    Gelegentlich hörte man bei einem Ruck des Wagens ein metallisches Klirren: sämtliche Gefangenen waren an den Füßen gefesselt. Eine Wagenladung trauriger Gesichter nach der anderen rollte vorüber. Winston war sich ihrer bewußt, obwohl er sie nur zeitweilig zu sehen bekam. Die Schulter und der rechte Arm des Mädchens waren an ihn gepreßt. Ihre Wange war ihm fast so nahe, daß er ihre Wärme spüren konnte.
    Genau wie damals in der Kantine hatte sie sofort die Situation in die Hand genommen. Sie begann zu sprechen, fast ohne die Lippen zu bewegen, mit einem bloßen Murmeln, das in dem Stimmengewirr und dem Geratter der Lastwagen unterging.
    »Können Sie mich verstehen?«
    »Ja.«
    »Können Sie sich am Sonntag Nachmittag freimachen?«
    »Ja.«
    »Dann hören Sie gut zu. Sie müssen es genau behalten. Sie fahren zum Paddington-Bahnhof –«
    Mit einer verblüffenden, geradezu militärischen Genauigkeit erklärte sie ihm den Weg, den er einzuschlagen hatte. Eine halbe Stunde Bahnfahrt; wenn er aus dem Bahnhof herauskam, mußte er sich links halten, zwei Kilometer die Straße entlang; dann kam ein Gattertor ohne Oberteil; ein Weg über ein Feld; ein vergraster Pfad; ein Fußweg zwischen Büschen hindurch; ein abgestorbener, moosbewachsener Baum. Es war, als habe sie die ganze Landkarte im Kopf. »Können Sie das alles behalten?« murmelte sie schließlich.
    »Ja.«
    »Sie gehen nach links, dann rechts, dann wieder links. Und das Tor hat oben keine Balken.«
    »Ja. Um welche Zeit?«
    »Gegen fünfzehn Uhr. Vielleicht müssen Sie warten. Ich komme auf einem anderen Weg hin. Sind Sie sicher, daß Sie sich an alles erinnern?«
    »Ja.«
    »Dann gehen Sie so rasch wie möglich von mir weg.«
    Das hätte sie ihm nicht zu sagen brauchen. Aber gerade jetzt konnten sie sich nicht aus der Menge herauswinden. Noch immer fuhren die Lastwagen vorbei, während die Menschen noch immer begierig 52
    George Orwell – 1984
    zuschauten. Am Anfang hatte man ein paar Pfui- und Nieder-Rufe gehört, doch nur von den Parteimitgliedern unter der Menge, und sie hatten bald aufgehört. Das vorherrschende Gefühl war lediglich Neugierde. Ausländer, ob aus Eurasien oder aus Ostasien, waren so etwas wie fremdartige Tiere. Man sah sie buchstäblich nie, außer in der Gestalt von Gefangenen, und sogar als Gefangene bekam man nie mehr als einen flüchtigen Schimmer von ihnen zu Gesicht. Auch wußte man nicht, was aus ihnen wurde, abgesehen von den wenigen, die als Kriegsverbrecher gehängt wurden. Die übrigen verschwanden ganz einfach, vermutlich in Zwangsarbeitslagern. Die runden Mongolengesichter wurden jetzt von schmutzigen, bärtigen, erschöpften Gesichtern mehr europäischen Gepräges abgelöst. Über stoppelige Backenknochen hinweg blickten Winston Augen an, manchmal mit seltsamer Eindringlichkeit, dann waren sie wieder verschwunden. Die unter Bedeckung fahrende Kolonne ging ihrem Ende zu. Im letzten Lastwagen konnte er einen älteren Mann sehen, dessen Gesicht ein einziges Gestrüpp grauer Haare war; er stand aufrecht da, die

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