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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Nachmittag vor uns. Ist das nicht ein prächtiges Versteck? Ich fand es, als ich mich einmal auf einem Gemeinschaftsausflug verlaufen hatte. Wenn jemand kommen sollte, kann man ihn auf hundert Meter Entfernung hören.«
    »Wie heißt du?« fragte Winston.
    »Julia. Ich weiß, wie du heißt. Winston – Winston Smith.«
    »Wie hast du das herausgefunden?«
    »Ich glaube, ich bin in solchen Sachen tüchtiger als du, mein Schatz. Sag mir, was hast du an dem Tag von mir gedacht, als ich dir den Zettel zusteckte?«
    Er fühlte sich nicht versucht, ihr etwas vorzulügen. Es war sogar eine Art Liebesbeweis, gleich das Schlimmste zuzugeben.
    »Mir war dein Anblick höchst zuwider«, gestand er. »Ich wollte dich am liebsten vergewaltigen und danach ermorden. Noch vor zwei Wochen dachte ich ernstlich daran, dir mit einem Pflasterstein den Schädel einzuschlagen. Wenn ich dir die volle Wahrheit sagen soll: Ich dachte, du seist bei der Gedankenpolizei.«
    Das Mädchen lachte belustigt und nahm das offenbar als Kompliment für ihre vorzügliche Tarnung hin.
    »Bei der Gedankenpolizei! Das kannst du doch nicht wirklich geglaubt haben?«
    »Na, vielleicht nicht gerade das. Aber deiner ganzen Erscheinung nach – bloß weil du jung und frisch und gesund bist, du verstehst doch – dachte ich, daß du vermutlich –«
    »Du hast mich also für ein gutes Parteimitglied gehalten. Ohne Fehl, in Wort und Tat. Fahnen, Umzüge, Schlagworte, Sport, Gemeinschaftswanderungen – das ganze Zeug. Und du hast geglaubt, daß ich dich, wenn ich nur die geringste Möglichkeit dazu gehabt hätte, als Gedankenverbrecher denunzieren und umbringen lassen würde?«
    »Ja, so etwas Ähnliches. Viele junge Mädchen sind so, weißt du.«
    »Dieses elende Ding ist daran schuld«, sagte sie und riß die rote Schärpe der Jugendliga gegen Sexualität herunter und schleuderte sie über einen Zweig. Dann, als habe sie das Berühren ihrer Hüften an etwas erinnert, suchte sie in den Taschen ihres Trainingsanzugs und brachte ein Täfelchen Schokolade zum Vorschein. Sie brach es in zwei Hälften und gab Winston ein Stück davon. Schon bevor er es genommen hatte, erkannte er am Geruch, daß es eine sehr ungewöhnliche Schokolade war. Dunkel und glänzend, und in Silberpapier eingewickelt. Schokolade war gewöhnlich ein stumpfbraunes bröseliges Zeug, dessen Geschmack, sofern man ihn überhaupt beschreiben konnte, dem Rauch eines Müllfeuers glich. Früher einmal hatte er allerdings Schokolade gekostet, von der gleichen Art wie das Stück, das sie ihm gab. Der erste Hauch ihres Duftes hatte eine Erinnerung in ihm geweckt, die er nicht festnageln konnte, die aber mächtig und beunruhigend war.
    »Wo hast du das her?« fragte er.
    »Vom schwarzen Markt«, sagte sie leichthin. »Eigentlich gehöre ich zu der Sorte Mädchen, bei denen der Schein trügt. Ich bin tüchtig im Sport. Ich war Truppenführerin bei den Spähern . Ich bin dreimal in der Woche ehrenhalber für die Jugendliga tätig. Ich habe Stunden um Stunden damit verbracht, ihre blödsinnigen Anschläge in ganz London anzukleben. Bei Umzügen trage ich ein Ende der Transparente. Ich sehe immer vergnügt aus und drücke mich vor nichts. Immer mit den Wölfen heulen, ist meine Parole. Es ist die einzige Möglichkeit, ungeschoren zu bleiben.«
    Das erste Stückchen Schokolade war auf Winstons Zunge zergangen. Es schmeckte vorzüglich. Aber immer noch rumorte an der Oberfläche seines Bewußtseins diese Erinnerung an etwas deutlich Empfundenes und doch nicht genau Umreißbares, wie ein Gegenstand, den man nur mit einem Augenwinkel erfaßt. Er schob diese Erinnerung von sich und war sich nur bewußt, daß sie einem Ereignis galt, das er gerne, doch vergeblich ungeschehen gemacht hätte.
    »Du bist sehr jung«, sagte er. »Du bist zehn oder fünfzehn Jahre jünger als ich. Was hat dich nur an einem Mann wie mich anziehen können?«
    »Es war etwas in deinem Gesicht. Ich dachte, ich sollte es wagen. Ich habe einen guten Blick dafür, wer nicht dazugehört. Sobald ich dich sah, wußte ich, daß du gegen sie bist.«
    Sie , stellte sich heraus, bedeutete in ihrem Munde die Partei und vor allem die Innere Partei, über die sie mit einem unumwunden höhnischen Haß sprach, der Winston ganz unsicher machte, obwohl er wußte, daß 55
    George Orwell – 1984
    sie hier noch am ehesten in Sicherheit waren. Was ihn bei ihr verblüffte, war die Derbheit ihrer Sprache. Von Parteimitgliedern wurde erwartet, daß sie keine

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