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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Hände vor sich verschränkt, als sei er gewohnt, sie in Fesseln zu tragen. Es war höchste Zeit für Winston und das Mädchen, sich zu trennen. Im letzten Augenblick aber, während die Menge sie noch fest eingekeilt hielt, tastete ihre Hand nach der seinigen und gab ihr einen flüchtigen Druck.
    Obwohl es nicht länger als zehn Sekunden gedauert haben konnte, schien es eine lange Zeit, daß ihre Hände sich umspannt hielten. Er fand Zeit, jede Einzelheit ihrer Hand in sich aufzunehmen. Er erforschte ihre langen Finger, die schön geformten Nägel, die arbeitsharte Innenfläche mit ihrer Reihe von Schwielen, das weiche Fleisch unter dem Handgelenk. Allein durch Befühlen ihrer Hand hätte er sie wiedererkannt.
    Gleichzeitig aber fiel ihm ein, daß er nicht wußte, welche Farbe ihre Augen hatten. Vermutlich waren sie braun, aber brünette Menschen hatten manchmal blaue Augen. Den Kopf zu drehen und sie anzusehen, wäre eine unvorstellbare Torheit gewesen. Ihre Hände hielten sich umklammert, ungesehen in dem dichten Gedränge, während sie unentwegt geradeaus starrten, und statt der Augen des Mädchens blickten Winston die Augen des alten Gefangenen traurig aus einem Gewirr grauer Haare an.
    Zweites Kapitel
    Winston suchte sich seinen Weg längs des von Licht und Schatten überspielten Fußpfades; jedes Mal, wenn die Büsche sich teilten, trat er in ganze Lachen goldenen Lichts. Zur Linken, unter den Bäumen, war der Boden übersät von blauen Glockenblumen. Die Luft berührte die Haut wie ein Kuß. Es war der zweite Tag des Monats Mai. Von irgendwo tiefer im Herzen des Waldes schlug das Gurren der Ringeltauben weich und verschwommen an sein Ohr.
    Es war noch ein wenig früh. Die Fahrt war ohne Schwierigkeiten vonstatten gegangen; das Mädchen war so augenscheinlich wohlbeschlagen, daß er weniger Angst empfand, als er normalerweise hätte haben müssen. Vermutlich konnte man sich darauf verlassen, daß sie einen sicheren Ort kannte. Im allgemeinen durfte man nicht annehmen, auf dem Lande sehr viel sicherer als in London selbst zu sein. Freilich gab es in der Natur keine Televisoren, aber es bestand immer die Gefahr verborgener Mikrophone, die eine Stimme auffangen und so zur Feststellung des Sprechers führen konnten; außerdem war es nicht leicht, eine Vergnügungsreise zu machen, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Für Entfernungen von weniger als hundert Kilometern brauchte man zwar keine besondere Eintragung in seinen Paß, aber manchmal trieben sich auf den Bahnhöfen Streifen herum, die die Papiere jedes aufgegabelten Parteimitglieds prüften und peinliche Fragen stellten. Diesmal aber waren keine Streifen aufgetaucht, und auf dem Weg zum Bahnhof hatte er sich durch vorsichtiges Umblicken überzeugt, daß niemand ihn verfolgte. Der Zug war voller Proles gewesen, dank des sommerlichen Wetters in bester Ferienstimmung. Das Abteil der Holzklasse, in dem er gesessen hatte, war bis zum Bersten von einer einzigen riesigen Familie besetzt, die von einer zahnlosen Urgroßmutter bis zu einem kaum geborenen Wickelkind hinausfuhr, um einen Nachmittag bei Verwandten auf dem Land zu verbringen und, wie sie Winston offenherzig erklärten, etwas Schwarzmarkt-Butter zu hamstern.
    Das Gestrüpp lichtete sich, und eine Minute später kam er an den schmalen Weg, von dem sie gesprochen hatte; es war im Grunde nur eine Fährte, die das Vieh zwischen den Sträuchern ausgetreten hatte. Er besaß keine Uhr, aber es konnte noch nicht fünfzehn Uhr sein. Die Glockenblumen standen so dicht, daß man nicht vermeiden konnte, darauf zu treten. Er kniete nieder und begann ein paar zu pflücken, teils um sich die Zeit zu vertreiben, teils aus der undeutlichen Vorstellung heraus, daß es ganz nett wäre, dem Mädchen zur Begrüßung ein paar Blumen anbieten zu können.
    Er hatte schon einen großen Strauß zusammengebracht und sog den zarten süßlichen Duft ein, als ihn ein Geräusch in seinem Rücken erstarren ließ: das unverkennbare Knacken von Zweigen unter dem Gewicht einer Schuhsohle. Er pflückte weiter seine Glockenblumen. Es war das Klügste, was er tun konnte. Vielleicht 53
    George Orwell – 1984
    war es das Mädchen, vielleicht aber war er doch verfolgt worden. Sich umzublicken war ein Beweis schlechten Gewissens. Er pflückte Blume auf Blume. Dann legte sich eine Hand auf seine linke Schulter.
    Er blickte auf. Es war das Mädchen. Sie schüttelte den Kopf, offenbar zum Zeichen, daß er sich still verhalten solle, dann teilte

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