1984
argwöhnischen Augen. Als Winston mit seinem Tablett von der Theke wegging, sah er, daß der kleine Mann geradewegs auf den Tisch des Mädchens zusteuerte. Wieder sanken seine Hoffnungen. An einem etwas weiter entfernten Tisch war zwar auch noch ein Platz frei, aber der kleine Mann sah nicht so aus, als ob er sich die Bequemlichkeit des nächsten und am wenigsten besetzten Tisches entgehen lassen würde. Mit erstarrtem Herzen ging Winston hinter ihm drein. Es hatte nur Zweck, wenn er das Mädchen allein sprechen konnte. In diesem Augenblick gab es einen scherbenklirrenden Krach. Der kleine Mann lag auf allen vieren, sein Tablett war ihm aus der Hand geglitten, zwei Bäche von Suppe und Kaffee ergossen sich über den Fußboden. Er rappelte sich mit einem bösen Blick auf Winston auf, den er offenbar im Verdacht hatte, ihm ein Bein gestellt zu haben. Aber nichts weiter passierte. Fünf Sekunden später saß Winston mit pochendem Herzen am Tisch des Mädchens.
Er sah sie nicht an. Er stellte sein Tablett ab und begann sofort zu essen. Zwar kam alles darauf an, schnell zu sprechen, ehe jemand anders an den Tisch kam, aber eine schreckliche Beklemmung hatte von ihm Besitz ergriffen. Eine Woche war vergangen, seit sie sich ihm zum erstenmal genähert hatte. Vielleicht hatte sie ihren Sinn geändert. Ja, sie mußte ihn geändert haben! Es war unmöglich, daß diese Geschichte gut ausging; so etwas gab es nicht im wirklichen Leben. Vielleicht hätte er überhaupt kein Wort über die Lippen gebracht, wenn er nicht in diesem Augenblick Ampleforth, den Dichter mit den behaarten Ohren, mit einem Tablett in Händen unbeholfen in dem Lokal herumgehen und nach einem Sitzplatz hätte suchen sehen. In seiner etwas unbestimmten Art war Ampleforth Winston zugetan und würde sicherlich an seinem Tisch Platz nehmen, wenn er ihn erblickte. Es blieb ihm vielleicht nur eine Minute zum Handeln. Beide, Winston und das Mädchen, aßen eifrig weiter. Was sie hinunterschlangen, war ein dünnes Eintopfgericht, eine Bohnensuppe. Mit einem leisen Murmeln begann Winston zu sprechen. Keiner von beiden blickte auf; ohne Unterbrechung löffelten sie das wäßrige Zeug und wechselten zwischendurch mit leiser, gleichförmiger Stimme die nötigsten Worte.
»Wann gehen Sie von der Arbeit weg?«
»Achtzehn Uhr dreißig.«
»Wo können wir uns treffen?«
»Victory-Square, beim Denkmal.«
»Dort wimmelt es von Televisoren.«
»Das macht nichts, bei dem Gedränge.«
»Brauchen wir ein Zeichen?«
»Nein. Kommen Sie erst zu mir herüber, wenn Sie mich mitten in der Menschenmenge sehen. Und sprechen Sie nicht mit mir. Bleiben Sie nur in meiner Nähe.«
»Wann?«
»Neunzehn Uhr.«
»Gut.«
Ampleforth hatte Winston nicht erspäht und setzte sich an einen anderen Tisch. Doch die beiden sprachen nicht mehr miteinander und vermieden es, soweit das für zwei am selben Tisch sich Gegenübersitzende möglich war, einander nochmals anzublicken. Sie beendete rasch ihre Mahlzeit und stand auf, während Winston sitzen blieb, um eine Zigarette zu rauchen.
Winston fand sich vor der verabredeten Zeit am Victory-Square ein. Er ging um den Sockel der riesigen kannelierten Säule herum, auf deren Spitze das Standbild des Großen Bruders gen Süden blickte, wo er die eurasischen Flugzeuge (vor ein paar Jahren waren es die ostasiatischen gewesen) in der Schlacht um den Luftflottenstützpunkt Nr. 1 besiegt hatte. In der Straße gegenüber stand ein Reiterdenkmal, das Oliver 51
George Orwell – 1984
Cromwell darstellen sollte. Fünf Minuten nach der vereinbarten Zeit war das Mädchen immer noch nicht erschienen. Wieder befiel Winston die gleiche fürchterliche Angst. Sie würde nicht kommen, sie hatte es sich anders überlegt! Langsam ging er die Nordseite des Platzes hinauf und empfand eine Art wehmütiger Freude beim Anblick der St.-Martins-Kirche, deren Glocken einst, als sie noch Glocken hatte, »You owe me three farthings« geläutet hatten. Plötzlich sah er das Mädchen an dem Denkmal stehen, scheinbar in die Lektüre eines Plakates vertieft, das spiralförmig um die Säule herum lief. Ehe sie nicht von mehr Menschen umgeben war, konnte er sich ihr nicht gefahrlos nähern; rund um das Denkmal waren Televisoren angebracht. Aber in diesem Augenblick ertönte von links her lautes Stimmengewirr und das Rattern schwerer Wagen. Plötzlich schien alles über die Straße zu laufen. Das Mädchen bog rasch um die steinernen Löwen am Fuß des Denkmals und lief der Menge
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