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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Flüche gebrauchten, und Winston selbst fluchte sehr selten, wenigstens nicht laut. Julia jedoch schien die Partei, und besonders die Innere Partei, nicht erwähnen zu können, ohne Worte von der Sorte zu gebrauchen, die man an modrigen Gassenmauern mit Kreide angeschrieben findet. Das war ihm nicht unangenehm. Es war lediglich ein Symptom ihrer Auflehnung gegen die Partei und entsprach ihrer ganzen Art; irgendwie schien es natürlich und gesund, wie das Schnauben eines Pferdes, das den Geruch von schlechtem Heu in die Nüstern bekommt. Sie hatten die Lichtung verlassen und wanderten wieder durch den von der Sonne gefleckten Schatten, die Arme umeinander gelegt, sooft der Weg breit genug war, um Seite an Seite zu gehen. Er merkte, wie viel weicher ihre Hüfte sich anzufühlen schien, seitdem die Schärpe fort war. Sie unterhielten sich nicht lauter als im Flüsterton. Außerhalb der Lichtung, sagte Julia, wäre es besser, beim Gehen zu schweigen. Nun waren sie an den Rand des Gehölzes gekommen. Sie blieb stehen.
    »Geh nicht aus der Deckung hinaus. Jemand könnte uns beobachten. Wir sind gut aufgehoben, solange wir hinter den Büschen bleiben.«
    Sie standen im Schatten von Haselnußsträuchern. Das durch die Blätter filternde Sonnenlicht war noch warm auf ihren Gesichtern. Winston blickte auf das drüben liegende Feld, und ein seltsames, leises Erschrecken des Wiedererkennens durchzuckte ihn. Er kannte es vom Sehen. Ein altes, abgemähtes Weideland mit einem Fußpfad, der quer hindurchführte, und da und dort ein Maulwurfshügel. In der unregelmäßigen Hecke an der anderen Seite wiegten sich die Zweige der Ulmen gerade noch wahrnehmbar in der leichten Brise, und ihre Blätter flirrten leise in dichten Büscheln wie Frauenhaar. Sicherlich mußte irgendwo in der Nähe, aber außer Sichtweite, ein Bach mit grünen Gumpen sein, in dem sich Weißfische tummelten.
    »Gibt es hier nicht einen Bach in der Nähe?« flüsterte er.
    »Stimmt, ein Bach ist da. Er fließt am Rande des nächsten Feldes. Es sind Fische darin, große, fette Kerle.
    Man kann sie in den Gumpen unter den Weiden schwimmen sehen, wie sie mit ihren Flossen rudern.«
    »Es ist beinahe wie das Goldene Land«, murmelte er.
    »Welches Goldene Land?«
    »Kein bestimmtes. Eine Landschaft, die ich manchmal im Traum gesehen habe.«
    »Schau!« flüsterte Julia.
    Eine Drossel hatte sich keine fünf Meter entfernt von ihnen auf einem Ast fast in ihrer Augenhöhe niedergelassen. Vielleicht hatte sie die beiden nicht bemerkt. Sie war in der Sonne, während die beiden im Schatten standen. Sie spreizte die Flügel, legte sie sorgfältig wieder zurecht, duckte einen Augenblick den Kopf, als machte sie der Sonne eine Verbeugung, und begann dann ihren Jubelgesang hinauszuschmettern.
    In der Nachmittagsstille war die Kraft der Stimme geradezu verblüffend. Winston und Julia standen bezaubert Arm in Arm. Der Gesang ging weiter, Minute auf Minute, mit erstaunlichen Variationen, ohne sich ein einziges Mal zu wiederholen, fast als wollte der Vogel ihnen seine Virtuosität beweisen. Manchmal verstummte er für ein paar Sekunden, spreizte von neuem sein Gefieder und faltete es wieder zusammen; dann blähte er seine gesprenkelte Brust und stimmte von neuem sein Lied an. Winston beobachtete ihn mit heimlicher Bewunderung. Wem zuliebe, für welchen Zweck, sang dieser Vogel? Kein Weibchen, kein Nebenbuhler beobachtete ihn. Was veranlaßte ihn, sich am Rande des einsamen Wäldchens niederzulassen und seine Musik ins Nichts zu schmettern? Er fragte sich, ob vielleicht doch irgendwo in der Nähe ein Mikrophon verborgen war. Er und Julia hatten nur im Flüsterton gesprochen, ihre Worte würde es nicht auffangen, sondern nur den Gesang der Drossel. Vielleicht lauschte am anderen Ende des Apparates ein kleiner, käferartiger Mann aufmerksam – lauschte gerade auf das hier. Aber langsam vertrieb die Flut der Musik alle Grübeleien aus seinem Denken. Es war, als ergösse sie sich wie eine flüssige Masse über ihn und verschmölze mit dem durch das Blattwerk sickernden Sonnenlicht. Er hörte zu denken auf und überließ sich ganz seinen Empfindungen. Der Mädchenleib in seinem Arm fühlte sich weich und warm an. Er zog sie an sich, so daß sie Brust an Brust lagen; ihr Körper schien mit dem seinen zu verschmelzen. Wo immer seine Hand hintastete, war alles weich und nachgiebig wie Wasser. Ihre Lippen fanden sich; es war ganz anders als die harten, festen Küsse, die sie vorher

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